Es ist eine Tatsache, dass sich Menschen nicht auf ihr Gedächtnis verlassen können. Von eigebildeten Erinnerungen über falsche Zeugenaussagen bis zu digitaler Amnesie: Die Psychologin Julia Shaw führt in ihrem neuen Buch „Das trügerische Gedächtnis“ den Beweis, dass das menschliche Gehirn ein raffinierter Trickbetrüger ist. Auf der Basis ihrer wissenschaftlichen Forschung zeigt sie, welchen Erinnerungen man trauen kann und welchen nicht – und wir man das Beste aus seinem trügerischen Gedächtnis herausholt. Zudem erklärt Julia Shaw, warum das Gedächtnis ähnlich wie eine Wikipedia-Seite funktioniert: Jeder kann den Inhalt selbst verändern, aber andere können es auch. Dabei stützt sich die Forscherin auf ihre richtungsweisende Forschung, in der sie Probanden davon überzeugt, sie hätten Straftaten begangen, die in Wahrheit nie verübt wurden. Die Rechtspsychologin Julia Shaw lehrt und forscht an der London South Bank University.
Die Erinnerungen bilden die Basis des Lebens und der Identität
Die Erkenntnisse von Julia Shaw haben kaum zu überschätzende Auswirkungen auf die Arbeit von Polizei und Justiz. Die persönlichen Erinnerungen helfen einem Menschen, seinen Lebensweg zu verstehen. Die Erinnerungen bilden die Grundlage des Lebens und der Identität. Sie formen das, was man erlebt zu haben und wozu man sich daher auch in der Zukunft befähigt glaubt. Julia Shaw fügt hinzu: „Aus diesen Gründen können wir unser Gedächtnis nicht infrage stellen, ohne zugleich zwangsläufig die Fundamente unserer Identität infrage zu stellen.“
Das Gedächtnis ist anfällig für ein breites Spektrum von Fehlern, Verzerrungen und Veränderungen. Gleich zu Beginn ihres Buchs stellt Julia Shaw zwei Schlüsselbegriffe der Gedächtnisforschung vor. Erstens das semantische Gedächtnis, auch generisches Gedächtnis genannt, das die Erinnerung an Bedeutungen, Begriffe und Fakten umfasst. Zweitens das episodische oder autobiografische Gedächtnis, das die Sammlung der vergangenen Erlebnisse eines Menschen umfasst. Dabei gibt es folgendes zu bedenken: Ebenso treten Erinnerungen, die sich anfühlen wie echte Erinnerungen, aber nicht auf tatsächlichen Ereignissen beruhen, ständig auf.
Die beste Zeit des Lebens ist genau jetzt
Und die Folgen solcher falschen Erinnerungen können sehr real sein. Julia Shaw erklärt: „Wenn wir an grundsätzlich fiktionale Repräsentationen der Wirklichkeit glauben, kann das alles und jedes in unserem persönlichen Leben betreffen. Es hat das Potential, echte Freude, echten Kummer und sogar ein echtes Trauma zu verursachen.“ Im Rahmen ihrer Gedächtnisforschung ist Julia Shaw zu der Erkenntnis gelangt, dass Menschen die Welt auf zutiefst unvollkommene Weise sehen. Und es wird ihr immer ein Rest von Zweifel bleiben, ob überhaupt eine Erinnerung vollständig richtig ist.
Kann man glücklich sein, obwohl man weiß, dass die eigenen Erinnerungen äußerst fragwürdig sind? Auf diese Frage antwortet Julia Shaw: „Absolut. Sogar glücklicher.“ Denn man ist dann weniger gefährdet, Opfer seiner eigenen Erinnerung zu werden, und kann zumindest ein gewisses Maß an Kontrolle über diesen schwer fassbaren Prozess ausüben. Die Vergangenheit ist eine fiktionale Repräsentation, und das Einzige, dessen man sich einigermaßen sicher sein kann, ist das was in der Gegenwart geschieht. Daraus folgt, dass die beste Zeit des Lebens und der Erinnerung eines Menschen genau jetzt ist.
Das trügerische Gedächtnis
Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht
Julia Shaw
Verlag: Hanser
Gebundene Ausgabe: 301 Seiten, Auflage: 2016
ISBN: 978-3-446-44877-3, 22,00 Euro
Von Hans Klumbies