Troja ist ein Ort von überragender Bedeutung. Er ist die Mutter aller Schlachten gegen „den Osten“. Dazu zählt Jürgen Wertheimer die Länder Ägypten, Persien, die Phöniker, Babylonier und Assyrer. Zu Beginn des ersten Jahrhunderts vor unserer Zeit war dies ein verlassener Ort an den Dardanellen. Wenige Griechen hatten sich in der Umgebung niedergelassen. Jürgen Wertheimer spekuliert: „Mag sein, dass man sich einiges von dem erzählte, was hier vor fünf oder sechs Jahrhunderten geschehen sein sollte. Eine große Schlacht der Panachaioi, der „Gesamtgriechen“, gegen eine der Militärmächte aus dem Osten.“ Möglicherweise gab es auch einige Sänger, die von diesem Krieg berichteten. Darunter einen aus der kleinasiatischen Küstenstadt Smyrna/Izmir – Homer. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Die Griechen entwickelten ein Zusammengehörigkeitsgefühl
Dass Homers Epos, die „Ilias“, zum Markstein europäischen Selbstverständnisses werden sollte, war sicher nicht absehbar. Doch die Absicht, dem Chaos der Trümmerlandschaft Troja einen Sinn zu geben, es politisch zu deuten, war unverkennbar. Ob die Griechen an ihre Götter glaubten, weiß man nicht. Dass jedoch das Ereignis des Trojanischen Krieges sie zum ersten Mail im Verlauf der Geschichte wirklich vereinigt hatte, daran glaubten sie mit vollem Recht.
Zumindest taten sie das im Gefolge der um 730/20 vor unserer Zeit entstandenen „Ilias“, dem Gründungsepos der hellenischen Idee. Jürgen Wertheimer blickt zurück: „Bis dahin gab es eine Reihe einzelner, heftig miteinander rivalisierender Stämme. Jeder Stadtstaat, jede Polis achtete streng auf ihre Autonomie.“ Erst das Unternehmen des großen Krieges – so die Interpretation Homers – ließ ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entstehen. Es entwickelte sich aus dem Geist eines gemeinsamen Feindbildes. Dieses war nicht schwer zu finden. Es handelte sich dabei um die Trojaner, die auf der anderen Seite des Ufers, jenseits der Dardanellen lebten.
Die Ilias handelt von der Psyche der Helden
Aus vergleichsweise nichtigem Anlass setzte sich der Tross Richtung Troja in Bewegung. Angeblich wegen des Raubes der sprichwörtlich schönen und charakterlich etwas ungreifbaren Helena. Dies war der Auftakt zu einer für beide Seiten qualvollen zehnjährigen Belagerung der Stadt. Viele Menschen haben die Ilias gelesen oder glauben, sie gelesen zu haben. Sie handelt von dem, was man die Psyche der Helden nennen könnte. Homer beginnt sein Epos an einer Schlüsselstelle und zieht seine Leser unmittelbar ins Geschehen hinein.
Falls er tatsächlich je stattgefunden haben sollte, der Trojanische Krieg, ein sonderlich erhabenes Schauspiel scheint er nicht gewesen zu sein. Er war eher ein Stresstest für die labile Gemengelage der eben erst entstehenden Griechen. Die Ilias nahm dabei alles in sich auf, was unausgesprochen in der Luft lag. Denn worum geht es? Um das Problem, das im Zentrum aller Vereinigungen und Zusammenschlüssen steht. Es geht um den Ausgleich zwischen Einzelinteressen und den Bedürfnissen und Zielen des Kollektivs. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer
Von Hans Klumbies