Die griechische Tragödie befreit von Zwängen

Die griechische Tragödie ist der öffentlich vorgetragene Versuch, sich aus den Zwängen archaischer Rituale zu befreien. Außerdem will man Rachemechanismen und Schicksalsobsessionen, an deren Fäden die Menschen hängen zu scheinen, abschütteln. Jürgen Wertheimer erläutert: „Denn alle, die wir in ihr Unglück stürzen sehen, müssen so handeln, wie sie handeln.“ Klytämnestra muss ihren Mann, der als Sieger von Troja zurückkehrt, töten. Damit will sie den Berg an Schuld und Lügen, die sich zwischen beiden angehäuft hat, abtragen. Orest muss Klytämnestra, seine Mutter, töten, um dem Gesetz seiner Götter und der Ehre zu genügen. Kassandra muss ihre Warnungen herausschreien. Wohl wissend, dass ihr auch jetzt, wie einst vor Troja, niemand glauben wird. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Grausame Pragmatik prägt das attische Theater

Und im Wissen darum, was Kassandra erwartet, betritt sie den Palast. Als erotisches Beutestück von Agamemnon mitgeschleppt, wird sie dort von Klytämnestra in einem Aufwasch mit entsorgt. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Wer je auf die Idee kam, das attische Theater mit den Kategorien des Edlen und Schönen auch nur ansatzweise in Verbindung zu bringen, muss bildungstrunken, bildungsblind gewesen sein.“ Es gibt kaum eine härtere, rücksichtslosere Bewährungsprobe für Wahrhaftigkeit als dieses Theater.

Alles menschliche Tun erscheint schrecklich und bis zu einem gewissen Grad banal und zwangsläufig. Es wird ganz ohne heilsgeschichtlichen Hintergrund mit grausamer Pragmatik dargestellt. Durch das Halbrund der Theater hallt ein gewaltiger, bisweilen aus den Fugen geratener Klangkörper. Die starren, befremdenden Masken, und eine nicht weniger harte, völlig unsentimentale, wenngleich hoch leidenschaftliche Sprache tun ein Übriges. Sie lassen die Zuschauer zu Augen- und Ohrenzeugen werden, alles intensiv miterlebend und dennoch in emotionaler Halbdistanz.

Der Bann der Erinnyen ist gebrochen

Nirgends ist Kassandras oder Orests hoffnungslos zerrissener Dazwischen-Zustand gnadenloser dargestellt worden als hier. Dazu zählen ihre Verflechtungen, ihre Mitschuld, ihre fatalen Erklärungs- und Rechtfertigungsversuche, der Fluch ihrer Berufung, der Fluch seiner Verfluchung, Hochmut, Verzweiflung. Alles drücken diese zwischen Bariton und Kopfstimme wimmernden, umbrechenden Stimmen im Zusammenspiel mit ihren bebenden Gliedern aus. Und man spürt mit jedem Wort, dass die Versuche, sich aus dem Bann der archaischen Gespenster zu lösen, auf schwankendem, blutigem Grunde stattfinden.

Nur mit einer Stimme mehr wird Orest schließlich vom Rat der Ältesten der Stadt vom Vorwurf des Mordes freigesprochen. Die eine Stimme kam bezeichnenderweise von der Schutzgöttin Athene. Damit ist der Bann der Erinnyen gebrochen. Zumindest für jetzt und hier. Zwar wurde das tödliche Gesetz der Blutrache mit gewaltiger Kraftanstrengung in der griechischen Polis außer Kraft gesetzt. Aber jeder im Rund mag gespürt haben, dass dieser Schuldschnitt das böse und das unschuldige Blut, das vergossen wurde, nicht einfach vergessen machen kann. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies