Das Drama war ein Produkt der Stadtstaaten

Die Männer, die aus dem Trojanischen Krieg zurückkamen, waren Verändernde und Veränderte. Von den Erfahrungen auf dem Schlachtfeld gezeichnet, passten sie nicht mehr ins soziale Gefüge der Orte, von denen sie ausgezogen waren. Und doch blieben sie im Gedächtnis derer Leitfiguren. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Mit der Erfindung des Dramas findet im 5. Jahrhundert vor unserer Zeit ein entscheidender Medienwechsel statt.“ Natürlich gab es Rituale und kultische Vorführungen schon früher und an anderen Orten. Aber es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, dass das Drama ein Produkt der noch jungen Stadtstaaten war. Es diente als zentrale öffentliche Form der kulturellen Selbstdarstellung. Unterhalb des Burghügels der Akropolis, kann man seine Reste noch heute besichtigen. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Das Theater in Griechenland sollte die Bürger erziehen

Es handelt sich dabei um die Ruinen des Dionysos-Theaters in Athen, eines der Zentren der neuen Entwicklung. Dort fanden im Dezember und März jedes Jahres mehrtägige „Dionysien“ von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang statt. Im Verlauf dieser religiös und politisch akzentuierten Volksfeste kamen jeweils verschiedene Stücke zur Aufführung. Am Ende wurden die Besten davon prämiert. Das Theater im alten Griechenland hatte vor allem das Ziel, die Bürger zu selbstständigem Handeln zu erziehen.

Vor allem aber ging es darum, den gesamten Kosmos der Werte, der Verhaltenswerte und der Emotionen umzubauen, um ihn polistauglich zu machen. Das war ein Projekt, für das es keine Vorbilder gab und das doch alternativlos war. Man musste Lebensformen entwickeln, die sich im Wissen um ihre heroische, mythologische Herkunft aus dem Schatten ihrer Vergangenheit lösten. Zudem musste man Räume schaffen, die für die Gegenwart des 5. und 4. Jahrhunderts vor unserer Zeit bewohnbar waren.

Die Tragödien ist primär affektgeleitet

Man stand vor der Aufgabe, diesen neuen Lebensstil praktisch zu erarbeiten, ihn einzuüben und zu kommunizieren. Mit dem Theater erfand man das optimal dafür geeignete Medium. Man darf sich darunter keine irgendwelchen drögen didaktischen Bildungslektionen vorstellen. Auch wenn insbesondere das klassische griechische Theater im Verlauf des 19. Jahrhunderts genau dazu gemacht wurde. Vor allem war das griechische Theater zu seiner Zeit ein Instrument, um Gefühle und Emotionen in Aufruhr zu versetzen.

Es ist für Jürgen Wertheimer kein Zufall, dass der Theoretiker der Agenda „Polis“, Aristoteles, die Tragödie als primär affektgeleitet definiert. Sie ist für den griechischen Philosophen eine Nachahmung von Handelnden, die Jammern und Schaudern hervorruft. Dadurch bewirkt sie allerdings eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen. Mit dem Begriff der „Katharsis“ beschreibt Aristoteles nicht die Reinigung der Gefühle, sondern einer Befreiung von diesen Gefühlen. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies