Europa hat ein gewaltiges Potenzial

Jürgen Wertheimer beschreibt in seinem Buch „Europa“ den gleichnamigen Erdteil als ein labiles und zugleich seit mehr als 2000 Jahren bestehendes Gebilde. Europa ist stets im Zerfall und Aufbau zugleich begriffen. Es hat immer dann am besten funktioniert, wenn eine gewisse artistische Balance zwischen Ansprüchen der Autonomie und Bedürfnissen der Bindung herrschte. Bei der inneren Widersprüchlichkeit Europas ist das alles andere als eine Selbstverständlichkeit. In seinem Buch unternimmt Jürgen Wertheimer den Versuch, sich diesem verwirrenden Kontinent zu nähern und ihn in all seinen Gegensätzen zu erkunden. Im Vergleich zu anderen Kulturen ist Europa viel filigraner und zerbrechlicher. Das ist aber nicht nur seine Schwäche, sondern auch seine Stärke. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Ein objektives Bild von Europa gibt es nicht

Die „Vereinigten Staaten von Europa“ sind für Jürgen Wertheimer ein Widerspruch in sich selbst. „Europa der Väterländer“ ist eine Vision aus der Mottenkiste. Beim „Band gemeinsamer europäischer Werte“ handelt es sich um pure Einbildung. Europa ist dagegen eng mit erstaunlichen Höhenflügen und verheerenden Abstürzen verbunden. Dazu kommen ebenso rabiate Ausbruchsversuche wie engherzige Rückzüge. Die Vorstellung von Europa als eines in sich geschlossenen Ganzen ist pure Illusion.

Jürgen Wertheimer rät: „Wir sollten uns mit dem Europa, wie es ist, anfreunden und das Beste daraus zu machen versuchen.“ Es ist unmöglich, ein objektives Bild von Europa zu zeichnen. Um dennoch einige Orientierungsmarken zu setzen, hat der Autor die bisweilen einschüchternde Stoffmenge in sechs Teile gegliedert. Diese fassen entscheidende Bewegungen zusammen. Europa ist und bleibt ein Patchwork aus Erinnerungen, Realitäten und Fiktionen. Es ist deshalb alles andere als ein in sich geschlossenes Ganzes.

Europa sollte zu einer Freihandelszone des Denkens werden

Wer einfache „Wahrheiten“ sucht, sollte sich nicht mit Europa befassen. Dieser Kontinent war über Jahrhunderte hinweg etwas zwischen Melting Pot und bisweilen Hexenkessel. Nie jedoch war Europa ein homogenes Gebilde mit „festen Außengrenzen“, wie sich das manche einreden. Jürgen Wertheimer möchte mit solchen ebenso antiquierten wie windschiefen Vorstellungen aufräumen. Denn sie hindern die Europäer daran, in der jetzigen labilen Situation die richtigen Antworten zu geben.

Ein Kontinent wie Europa hat laut Jürgen Wertheimer ein gewaltiges Potenzial, wenn es darum geht, bedrohte Ordnungen zu stabilisieren und kreative Ideen zu entwickeln. Ebenso kann er Synergien erzeugen, Ängste abbauen und radikale Positionen entschärfen. Der Autor wünscht sich für Europa folgendes: „Statt in die Defensive zu gehen und Zäune zu bauen, sollten wir alles daran setzen, aktiv in das Geschehen um uns her wie innerhalb des Kontinents selbst einzugreifen und gestaltend mitzuwirken. Wir sollten zu einer Freihandelszone kontroversen Denkens werden.“

Europa
Eine Geschichte seiner Kulturen
Jürgen Wertheimer
Verlag: Penguin
Gebundene Ausgabe: 574 Seiten, Auflage: 2020
ISBN: 978-3-328-60063-3, 26,00 Euro

Von Hans Klumbies