Die Aufklärung hatte revolutionäre Folgen

Das „Projekt Aufklärung“ war insgesamt das zentrale und in seiner Vielgestaltigkeit und Konsequenz das vielleicht folgenreichste Vorhaben Europas. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Es sollte alle Medien und Institutionen erfassen, alle Stände und Länder durchdringen und massive, ja revolutionäre Folgen haben.“ Für Immanuel Kant ist Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist dabei das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Der Wahlspruch der Aufklärung lautet: „Habe den Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Eine Formel wie diese schreibt sich nicht einfach so hin. Sie ist das Resultat eines Erfahrungs- und Erwartungsprozesses. Sie spricht von der Vergangenheit wie von der Zukunft, ist Feststellung und Appell zugleich. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Nur die Macht der Argumente zählt

Und es geht um alles. Will man ferngesteuerte Amöbe bleiben oder Mensch werden? Hat man die Courage, seinen eigenen Verstand zu nutzen, oder lässt man sich von anderen manipulieren? Sein oder Nichtsein – das ist auch hier die Frage. Immanuel Kant hält sich nicht mit Details auf, sondern geht ans Eingemachte, ans Selbstgemachte, Selbstverschuldete. Faulheit und Feigheit seien das Grundübel, die Ursache für die mentale, das heißt intellektuelle und emotionale Stagnation der Menschen.

Der Essay „Was ist Aufklärung“ von Immanuel Kant hört sich phasenweise an wie eine Publikumsbeschimpfung. Mit dem Ziel, die Leser wachzurütteln. Mit allen Mitteln? Jürgen Wertheimer weiß: „Nein, widerspricht der Philosoph aus Königsberg, beileibe nicht mit allen, letztlich sogar mit einem einzigen. Nämlich mit der Macht der Argumente, der Freiheit zu argumentieren, zu publizieren, zu diskutieren – und zwar ohne jede Einschränkung. Außer einer: der zu gehorchen und weiterhin seine Pflicht zu erfüllen.“

Die Aufklärung ist keineswegs eindeutig

Schreib einen Artikel gegen Wucher – aber zahle deine Schulden. Protestiere gegen den Krieg – aber mach, was dein Offizier befiehlt. Zweifle an Gott in einem Pamphlet – aber predige im Sinne der Kirche, wenn du auf der Kanzel stehst. Ein paar Seiten Kantlektüre, und man sieht: Die Aufklärung ist keineswegs so eindeutig und so einfach, wie es häufig erscheint, wenn man vom Zeitalter der Vernunft und der Rationalität spricht. Denn die Frage „Wie vernünftig ist diese Vernunft“ steht meist im Hintergrund.

Jürgen Wertheimer erklärt: „In welcher Misere die Menschen dieser Zeit wirklich lebten, zeigt sich weit besser in den Theaterstücken und Romanen als in gelehrten Traktaten.“ Denn die Aufklärung erschöpfte sich nicht im Kampf gegen Autoritäten. Sie bietet darüber hinaus ein völlig neues Wertesystem unter dem Vorzeichen der „Tugend“ an. Einer Tugend, welche die Individuen aus einer Form der Abhängigkeit löst, um sie mit einer neuen Form der Autorität unter Druck zu setzen. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies

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