Die europäische Demokratie kann erschüttert werden

Die Welt ist aus den Fugen geraten. Demokratische und soziale Wertesysteme, die in den letzten Jahrzehnten das Fundament für politische Stabilität waren und zumindest in Europa für relativen Frieden sorgten, brechen auseinander. Jürgen Roth stellt fest: „Die Hoffnung, dass die pluralistische liberale europäische Demokratie so gefestigt sei, dass sie nichts erschüttern kann, scheint der bitteren Realität zu weichen.“ Viel zu wenig wird die Frage gestellt, was es für den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft eigentlich bedeutet, dass bereits im Jahr 2012 EU-Steuer-Kommissionspräsident Algirdas Šemeta ausrechnete, dass der Europäischen Union (EU) Jahr für Jahr eine Billion Euro durch Steuerhinterziehung und Steuerumgehung verloren gingen. Diese Steuerflüchtlinge kommen den Bürgern weitaus teurer zu stehen als alle nach Europa Geflüchteten des Jahres 2015 zusammen. Jürgen Roth gilt als einer der bekanntesten Vertreter des investigativen Journalismus in Deutschland.

Die demokratischen Institutionen sind ins Wanken geraten

Der amerikanische Multimilliardär Warren Buffet, geradezu das Symbol des globalen Raubtierkapitalismus, sagt ganz offenherzig, worum es tatsächlich geht: „Es herrscht Klassenkampf, meine Klasse gewinnt, aber das sollte sie nicht.“ Das sagte er im Jahr 2006, knapp zwei Jahre vor der internationalen Finanzkrise. Vier Jahr später, zwei Jahre nach dieser Finanzkrise, klang das schon ganz anders: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig. Aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.“

Der im Mai 2016 verstorbene Historiker Fritz Stern spricht davon, dass die demokratischen Institutionen ins Wanken geraten sind. Auf die Frage, was das für die Zukunft der Demokratie bedeutet, antwortet er: „Eine weitere Verunsicherung. Wenn man Verunsicherung, Angst und Verdummung zusammentut, dann kommt das große Schreien nach Autorität, nach Führung. Das alles sieht man im Augenblick in Amerika wahrscheinlich am deutlichsten.“ Michel Reimon, Autor und österreichischer Abgeordneter der Grünen im Europäischen Parlament, sagt: „Der letzte Gesellschaftsvertrag, den es in Westeuropa gab, war der des Sozialstaates.“

Ein alles Leben vernichtender Atomkrieg wird wieder denkbar

Michel Reimon klagt an: „Dieser Vertrag ist gekündigt: Vom Staat, nicht von den ArbeitnehmerInnen. Die zahlen doch die Steuern und Lohnnebenkosten, aber der Staat ist nicht mehr für sie da. Er rettet Banken statt Arbeitsplätze. Er fördert die Freiheit der Finanzmärkte statt jene der Schulen und Universitäten.“ Hinzu kommt die von vielen Politikern verdrängte Gefahr, dass auf der außenpolitischen Ebene, als Folge der gegenwärtigen Sprachlosigkeit und Dialogunfähigkeit zwischen Russland und dem Westen, in den Konfliktgebieten wie der Ukraine oder Syrien ein nicht mehr beherrschbarer kriegerischer Flächenbrand entstehen kann.

Militärische Drohkulissen und Aktivitäten der Destabilisierung werden zwar vom Kreml systematisch aufgebaut. Aber auch einige westliche NATO-Staaten und die USA zündeln eifrig. Das könnte in letzter Konsequenz dazu führen, dass der alles Leben vernichtende Atomkrieg wieder denkbar wird. Der Historiker Michael Stürmer warnt: „Es gab zwischen den atomaren Supermächten so etwas wie ein Kartell der Friedensbewahrung und der Konfliktvermeidung. Damit ist es weitgehend vorbei.“ Die Drohungen entwickeln ihre eigene unheimliche Dynamik. Die Deregulierung der Weltpolitik findet ihren Ausdruck in Hybridkriegen und in der Denkbarkeit des nuklearen Ernstfalls ohne Ziel und ohne Grenze. Quelle: „Schmutzige Demokratie“ von Jürgen Roth

Von Hans Klumbies