Die anhaltende Gewalt an Europas Grenzen beschädigt die liberale Demokratie auch durch die Erosion der Rechtsstaatlichkeit. Judith Kohlenberger stellt fest: „Kollektiv werden wir daran gewöhnt, dass Rechtsbrüche nicht geahndet werden, Unrecht sanktionslos bleibt. Seit Jahren verstoßen zahlreiche Mitgliedsstaaten der Europäischen Union offen gegen Völker- und EU-Recht ohne nennenswerten Konsequenzen.“ In Ungarn ist das Asylrecht de facto ausgesetzt, Schutz beantragen kann man nur mehr über eine Absichtserklärung in den Botschaften Kiews und Belgrads. Für alle nach Ungarn kommenden Schutzsuchenden, die nicht schon vorher von stacheldrahtumwickelten und mit Drohnen und Wärmesensoren überwachten Grenzzaun abgehalten wurde, bedeutet das: völkerrechtswidrige, meist gewaltsame Zurückweisung nach Osten oder dublinwidriges Weiterschicken in den Westen. Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien und dem Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip).
Schießereien zwischen Schleppern sind keine Seltenheit
An der Grenze zu Serbien herrscht seit Jahren ein systematisch herbeigeführter Ausnahmezustand. Judith Kohlenberger weiß: „Schießereien zwischen Schleppern, Kleinkriminellen und Polizisten, so berichten Grenzschutzbeamte sind keine Seltenheit. Dabei werden immer wieder Migranten verletzt oder sogar getötet, Berichte darüber sind in den westlichen Medien kaum zu finden.“ Verfeindete Schlepperbanden werden immer skrupelloser, feuern mit Kalaschnikows aufeinander, verlangen Schutzgeld, erpressen Polizei, Sicherheitsbeamte, Migranten und Anrainer.
Denn die Schlepper erleben durch die zunehmende Fortifizierung der Grenzen Europas einen wahren Geschäftsaufschwung: Je höher die Mauer, desto länger und teurer die Leiter, und die bauen einem die Schlepper. Im Sommer 2021 eskalierte der polnisch-belarussische Grenzkonflikt. Dabei wurde das Gebot der Nichtzurückweisung, ein Kernstück des Asylrechts, untergraben, und das mit dem Segen der Europäischen Union (EU). Judith Kohlenberger blickt zurück: „Im Verlauf der folgenden Monate mussten Hunderte Menschen, darunter auch Kinder und Kleinkinder, bei mangelhafter Versorgung und abnehmenden Temperaturen im sumpfigen Grenzgebiet ausharren.“
Immer mehr EU-Staaten verwehren Migranten den Grenzübertritt
Im offenen Bruch mit dem geltenden Völkerrecht verwehrten ihnen EU-Staaten, allen voran Polen selbst, den Grenzübertritt und drängten Ankommende sogar gewaltsam zurück – teilweise mit Schlagstöcken, Tränengas und Radpanzern. Judith Kohlenberger fügt hinzu: „Für diese Menschen gab es kein Vor und kein Zurück. Mehrere von ihnen erfroren in Eiseskälte oder kamen zu Tode, weil ihre akuten oder chronischen Erkrankungen nicht behandelt werden konnten, darunter ein einjähriges Kind.“
Neben der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen schränkte Polen auch die Pressefreiheit im Grenzgebiet ein, ließ weder Journalisten noch Hilfsorganisationen dorthin durch – dieselben Organisationen, die einige Kilometer weiter südlich, an der Grenze zur Ukraine, gefeiert und geehrt wurden. Judith Kohlenberger erklärt: „Denn nur wenige Monate nach der Eskalation des Grenzkonflikts mit Belarus nahm Polen innerhalb kürzester Zeit über zwei Millionen Schutzsuchende aus der Ukraine auf.“ Quelle: „Gegen die neue Härte“ von Judith Kohlenberger
Von Hans Klumbies