Das Lernen aus Erfahrungen ist ein Grundkennzeichen der Reflektion. Judith Glück weiß: „Weise Menschen durchdenken ihre Erlebnisse und ziehen Schlüsse aus ihnen, die sie zu besseren Menschen machen.“ Judith Glück wird immer wieder gefragt, ob man Weisheit nicht auch durch indirekte Erfahrungen wie etwa das Lesen von Büchern erlangen kann. Sie antwortet: „Zweifellos kann man sehr vieles durch Bücher, Medien und Gespräche lernen – es kommt ja immer wieder vor, dass uns ein Buch oder ein Satz, den jemand nebenbei gesagt hat, eine ganz neue Perspektive eröffnet.“ Eigenen Erfahrung – wenn es gelungen ist, sie gut zu bewältigen – ermöglicht es aber in ganz besonderem Maße, sich in andere Menschen in ähnlichen Situationen hineinzuversetzen und sie wirksam zu unterstützen. Judith Glück ist seit 2007 Professorin für Entwicklungspsychologie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Kinder brauchen eine Schutzperson
Reflektive Menschen hinterfragen nicht nur, sie nehmen oft auch eine breitere Perspektive ein, die über ihre eigene Person und Stellung hinausgeht. Es gibt immer wieder Menschen, die schwerwiegende frühere Belastungen überwinden und durch sie sogar wachsen können. Die wichtigste Ressource für sie war vermutlich eine verlässliche Bezugsperson in den ersten Jahren ihres Lebens. Diese frühen Erfahrungen haben es ihnen ermöglicht, überhaupt erst zu wissen, was ihnen später fehlte.
Judith Glück erläutert: „Die Bindungsforschung zeigt, dass Kinder, die eine solche Schutzperson nie gehabt haben, oft schwere psychische Schäden erleiden.“ Studien zur Resilienz bei Kindern in extremen Belastungssituationen zeigen eindrucksvoll, dass eine einzige schützende Beziehung in den ersten Lebensjahren – das muss nicht unbedingt ein Elternteil sein – ausreichen kann, damit ein Kind psychisch gesund bleibt. Ein Kind dagegen, das nie eine zuverlässige Betreuung erlebt hat, fragt sich vielleicht gar nicht, warum es geschlagen oder geängstigt wird.
Weise Menschen begehen einen Fehler nicht zwei Mal
Die Weisheitsforscherin Monika Ardelt meint, dass das Streben nach Erkenntnis, nach einem tiefen Verständnis des menschlichen Erlebens und Handelns eine der Grundlagen der reflektiven Haltung ist, aus der Weisheit entsteht. Judith Glück schreibt: „Reflektive Menschen haben selbst dann, wenn sie mitten im Geschehen stehen, emotional voll involviert sind in einem Streit oder einer neuen Liebe, irgendwo im Hinterkopf einen kleine Beobachter sitzen, der manchmal plötzlich ausruft: „Das ist ja erstaunlich“, und wieder eine neue Beobachtung über die Menschen registriert.“
Dieser Beobachter hilft einem Menschen, auch in schwierigen Situationen ein gewisses Maß an Regulation der eigenen Emotionen aufrechtzuerhalten oder zumindest auf der gedanklichen Ebene auch die Perspektive der anderen Seite einnehmen zu können. Es hilft ihm auch, aus seinen Erfahrungen zu lernen, etwa bestimmte Fehler nicht immer wieder zu machen oder bestimmte Situationen erst gar nicht entstehen zu lassen. Auf längere Sicht versteht man dadurch das eigene Verhalten und dasjenige anderer Menschen immer besser. Quelle: „Weisheit“ von Judith Glück
Von Hans Klumbies