Es gibt eine Reihe von Eigenschaften, die mit Weisheit zusammenhängen. Eine davon ist die Offenheit für Erfahrungen. Jeffrey Webster hat postuliert, dass Offenheit eine von fünf Eigenschaften ist, die alle zusammen Weisheit ausmachen. Judith Glück erklärt: „Auch mein Forschungsteam und ich glauben, dass Offenheit eine Kerneigenschaft weiser Menschen ist, aber wir sehen sie vor allem als eine Entwicklungsressource für Weisheit, d.h. sie zeigt sich schon, bevor jemand ein hohes Maß an Weisheit aufgebaut hat.“ Offenere Menschen begeben sich öfters in weisheitsfördernde Situationen wie beispielsweise Auslandsaufenthalte, sie sind in schwierigen Situationen weniger darauf aus, recht zu haben und zu behalten, und sie können in der rückblickenden Auseinandersetzung mit solchen Erfahrungen mehr aus ihnen lernen. Judith Glück ist seit 2007 Professorin für Entwicklungspsychologie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Dankbarkeit zählt nicht zu den Kerneigenschaften der Weisheit
Zugleich ist es aber natürlich eine Tatsache, dass weise Menschen auch offener sind. Die Fähigkeit, Emotionen gut zu regulieren, entwickelt sich beispielsweise im Lauf des Lebens, ebenso wie sich Weisheit entwickelt. Weise Menschen haben gute Fähigkeiten zur Regulation ihrer Emotionen – aber nicht alle Menschen, die ihre Gefühle gut regulieren können, sind auch weise. Erst mit dem Zusammenspiel mit den anderen Ressourcen wird die Regulation von Emotionen zu einer Kerneigenschaft von Weisheit.
Es gibt weitere Eigenschaften, von denen viele Menschen meinen, dass sie charakteristisch für Weisheit sind, die aber eben nicht zu ihrem Kern gehören. Ein Beispiel dafür ist die Dankbarkeit. Weise Menschen, speziell Frauen, äußern häufig Dankbarkeit, vor allem für Erfahrungen, aber auch für bestimmte Eigenschaften ihrer selbst oder für andere Menschen. Judith Glück dagegen glaubt, dass Dankbarkeit sozusagen ein „Nebenprodukt“ der Entwicklung von Weisheit ist. Wer sich der Grenzen des eigenen Einflusses bewusst ist und sich damit auseinandersetzt, wie es zu bestimmten Ereignissen kommen konnte, kann nicht umhin, zu erkennen, wie vieles Gutes in seinem Leben ganz ohne sein Zutun passiert, und dafür dankbar zu sein.
Veränderungen gehören zum Leben und haben positive Wachstumspotentiale
Judith Glück ergänzt: „Die schweren Erfahrungen, die weise Menschen oft gemacht haben, haben in vielen von ihnen das Bewusstsein dafür geweckt, wie wertvoll ein schöner Tag oder ein gutes Gespräch ist.“ Mit einer Eigenschaft, von der sich Judith Glück nicht sicher ist, ob sie ein Nebenprodukt oder doch eine Kerneigenschaft von Weisheit ist, hat sich Lara Dorner beschäftigt. Sie bezeichnet diese Eigenschaft als Prozessorientierung. Weise Menschen sind sich der Tatsache, dass Veränderungen zum Leben gehören, und des positiven Wachstumspotentials solcher Veränderungen bewusst.
Mit ihrer langjährigen Kooperationspartnerin Susan Bluck hat Judith Glück mehrfach darüber diskutiert, ob nicht vielleicht „Tiefe“ der bessere Ausdruck für das wäre, was man beim Lernen aus dem Leben erwirbt, als „Wachstum“. Wachstum, der Weg nach oben, ist eher charakteristisch für das junge Erwachsenenalter, in dem man sein Leben noch weitgehend frei gestaltet und große Ziele hat. Hingegen setzt das weisheitsbezogene Lernen vor allem dann ein, wenn das Nach-oben-Streben an Grenzen stößt, weil etwas Unvorhergesehenes passiert, die persönlichen Ziele nicht erreichbar sind oder sie sich gegenseitig verhindern. Quelle: „Weisheit“ von Judith Glück
Von Hans Klumbies