Judith Butler bewegt sich in ihrem Buch „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ zwischen einer psychoanalytischen und einer gesellschaftstheoretischen Auffassung von Interdependenz. Sie will damit den Grundstein für eine Praxis der Gewaltlosigkeit im Rahmen eines neuen egalitären Imaginären legen. Judith Butler erklärt: „Diese Analyseebenen muss an zusammenführen, ohne dass der psychoanalytische Rahmen zum Modell aller sozialen Beziehungen gerät.“ Die Kritik der Ich-Psychologie gibt der Psychoanalyse jedoch eine gesellschaftliche Bedeutung. Diese verknüpft sie mit weitreichenden Überlegungen zu Lebensgrundlagen und deren Bestand. Dabei handelt es sich um Fragen, die für jede biopolitische Fragestellung zentral sind. Judith Butlers Gegenthese zur Naturzustandshypothese lautet, dass kein Körper sich aus eigener Kraft erhalten kann. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.
Der Wille ist ein Prozess
Der Körper ist für sein Bestehen auf andere verwiesen, er ist auf andere Hände angewiesen, bevor er seine eigenen gebrauchen kann. Alle Menschen beginnen ihr Leben, indem sie anderen überantwortet sind, eine Lage, die zugleich passiv und belebend ist. Judith Butler erläutert: „Das geschieht, wenn ein Kind geboren wird: Jemand gibt das Kind in die Hände eines anderen. Von Anfang an werden wir gegen unseren Willen gleichsam gehandhabt, da der Wille ein Prozess ist, der uns erst formt.“
Selbst das Kind Ödipus gab man in die Hände jenes Schäfers, der es in den Bergen sterben lassen sollte. Das war eine beinahe tödliche Handlung, da seine Mutter Ödipus ja jemandem überließ, der dafür sorgen sollte, dass es stirbt. Gegen den eigenen Willen in jemandes Hand gegeben zu werden ist nicht immer schön. Das Kleinkind übergibt man jemandem, von dem man in der Regel annimmt, dass er sich um es kümmert. Man übergibt es auf eine Weise, die man nicht immer als Akt des eigenen Willens oder der freien Entscheidung erlebt.
Abhängigkeiten enden niemals
Das Sichkümmern vollzieht sich nicht immer im Konsens und es nimmt nicht immer die Gestalt eines Vertrages an. Judith Butler weiß: „Es kann auch bedeuten, wieder und wieder durch die Ansprüche eines jammernden und hungrigen Geschöpfs an die eigenen Grenzen zu stoßen. Aber hier ist auch ein umfassender Anspruch im Spiel, der nicht auf einer bestimmten Vorstellung der sozialen Regelung der Mutterschaft oder der Versorgung beruht.“
Der fortschreitenden Abhängigkeit von sozialen und wirtschaftlichen Formen der Unterstützung des Lebens entwächst man nicht. Diese Abhängigkeit verwandelt sich nicht im Lauf der Zeit in Unabhängigkeit. Wo man auf nichts mehr bauen kann, gerät das Leben ins Schlingern. Es tritt in eine prekäre Phase ein. Diese andauernde Gefährdung kann für die Betreuung von Kindern oder Alten schmerzliche Folgen haben. Das gilt auch für körperlich eingeschränkte Menschen. Aber letztlich sind alle Menschen in dieser Lage. Quelle: „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ von Judith Butler
Von Hans Klumbies