Joyce Carol Oates fühlt sich der Wahrheit verpflichtet

Die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates hat mehr als sechzig Romane geschrieben, ein wildes Sammelsurium aus Liebesgeschichten, Familiendramen, Romanzen, Psychothrillern, Schauerromanen und Geistergeschichten. Die Initialzündung für ihre beeindruckende Schriftstellerinnenkarriere war eine illustrierte Ausgabe des Buchs „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll, das ihr ihre Großmutter zum achten Geburtstag schenkte. Joyce Carol Oates verliebte sich in Alice auf den ersten Blick. Von diesem Zeitpunkt an wollte sie genauso neugierig und unfassbar mutig werden wie Alice. Im Erwachsenenalter analysiert die Schriftstellerin in ihren Geschichten familiäre Neurosen und gesellschaftliche Strukturen, die sie in zwei ihr sehr gut bekannten Milieus findet – in der Welt der Armen und im Elfenbeinturm der Universitätsdozenten.

 Joyce Carol Oates entwirft ihre Bücher während des Laufens

Andere Themen für ihre Romane findet Joyce Carol Oates in den Boulevardzeitungen. Sie interessiert sich zum Beispiel für die Lebensgeschichte von Marilyn Monroe oder Lady Di, aber auch für das Schicksal von Serienmördern, die in Hochsicherheitsgefängnissen einsitzen. Daneben beschreibt sie auch das ganz normale Elend des amerikanischen Alltags. Das Amerika der Joyce Carol Oates, das sie in ihren Romanen entwickelt, ist kein amerikanischer Traum, sondern ein Gespinst engster dramatischer Verwicklungen, wie sie in ganz gewöhnlichen Familien immer wieder vorkommen.

Joyce Carol Oates entwirft ihre Bücher während des Laufens, rekapituliert und korrigiert fertige Abschnitte, entwirft neue Szenen und beobachtet dabei, wie sich während des Joggens Gedanken und Träume verbinden. Sie behauptet, dass dann das eigentliche Niederschreiben des Romans für sie nur noch eine Kleinigkeit sei. Neben dem Laufen hat Joyce Carol Oates eine Leidenschaft für den Boxkampf. Er ist für sie eine Metapher für die nicht enden wollenen Kämpfe, die ein jeder in seinem Leben bestehen muss. Zugleich steht der archaische Zweikampf für die Erkenntnis, dass man selbst sein eigener Gegner ist und die eigene Kraft auf dessen Schwäche beruht.

Beim Schreiben vergisst Joyce Carol Oates Raum und Zeit

Fasziniert von Verbrechen und Gewalt, behauptet Joyce Carol Oates, dass ohne Gewalt keine Zartheit entstehen kann und umgekehrt ohne Sanftheit keine Gewalt möglich ist. Die Schriftstellerin geht bewusst das Risiko ein, mit ihren Romanen zu verstören, falsch verstanden zu werden und Gewissheiten ad absurdum zu führen. Ihr Schreibstil ist anschaulich, der Wahrheit verpflichtet und bietet Einblicke in die Banalität des menschlichen Daseins. Joyce Carol Oates nimmt dabei keinerlei Rücksicht auf den puritanischen Ethos Amerikas.

Die Verzweiflung, wie sie Joyce Carol Oates in vielen ihren Bücher beschreibt, ist Achtlosigkeit und Abgestumpftheit als eine Form der Sünde und die Ironie ist für sie ein Hilfsmittel, um die Gefühle der Panik in Schach zu halten. Dennoch gibt es für Joyce Carol Oates nichts Schöneres als beim Schreiben in die Imagination eines Romans einzutauchen und dabei die Zeit und die Welt um sie herum zu vergessen.  

Kurzbiographie: Joyce Carol Oates

Joyce Carol Oates wurde am 16. Juni 1938 in Millersport, im US-Bundesstaat New York geboren. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr schreibt sie unermüdlich Romane, Erzählungen, Essays und Aufsätze für Zeitschriften. Im Jahr 1970 wurde sie mit dem National Book Award, im Jahr 2005 mit dem Prix Femina Étranger ausgezeichnet. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen die Erzählungen „Grenzüberschreitungen“, die Romane „Bellefleur“ und „Niagara“ sowie der Essay „Über Boxen“.

Von Hans Klumbies