Joyce Appleby kritisiert den zügellosen Kapitalismus

Für die amerikanische Historikerin Joyce Appleby ist die Gier nicht der einzige Kritikpunkt, den sich der zeitgenössische Kapitalismus vorhalten lassen muss. Sie hat eine kurze Liste weiterer Anklagen zusammengestellt: „Kurzsichtiges Handeln und Vernachlässigung langfristiger Folgen, Zuteilung von Kompetenzen ohne gleichzeitige Zuweisung von Verantwortung, Bevorzugung materieller gegenüber geistigen Werten, Kommerzialisierung zwischenmenschlicher Beziehungen, Monetarisierung sozialer Werte, Schädigung der Demokratie, Verunsicherung von Gemeinschaften und Institutionen, Gefährdung bestehender Abmachungen, Förderung von Aggressivität und – ja, dieses Thema hatten wir schon – Belohnung von Gier.“ Darüber hinaus werfen ihrer Meinung nach zwei weitere kapitalistische Erblasten ihre Schatten voraus, nämlich das schier unlösbare Problem der Armut und die fortschreitende Zerstörung der Umwelt.

Drei Richtungen der Kapitalismuskritik

Joyce Appleby unterscheidet drei verschiedene Gruppen von Kapitalismuskritikern. Zur ersten Gruppe zählt sie diejenigen, die sich von der Vulgarität und der Hässlichkeit abwenden, die das Streben nach Gewinn oft mit sich bringt. Sie verurteilen das übergroße Warenangebot und die materialistische Gesinnung ihrer Mitbürger rund um den Globus. Sie entstammen in der Regel gesellschaftlichen oder akademischen Eliten. Die zweite Gruppe greift den Kapitalismus wegen seiner Sünden einer Globalisierung an, in der sich die wohlhabenden Nationen auf Kosten der Armen und Schutzlosen bereichert haben.

Das Schreckgespenst der Gegner der Globalisierung ist der multinationale Konzern, der ihrer Meinung nach sozial unverantwortlich und ohne Gespür für die menschlichen Bedürfnisse handelt. Sie schreibt: „Kritiker stellen die Multis als monströse Kraken dar, deren Tentakeln nach jeder Gelegenheit greifen, die einen Profit verspricht, und sei sie auch noch so dubios.“ Die dritte Gruppe schließlich steht dem Kapitalismus grundsätzlich positiv gegenüber, will ihn aber fairer und offener gestalten. Der „neue“ Kapitalismus soll sowohl die Bedürfnisse der Menschen als auch die Aussicht auf Gewinn befriedigen.

Die Stärken des Kapitalismus können das Leben aller Menschen verbessern

Die dritte Gruppe erscheint Joyce Appleby als die interessanteste Gruppe, weil sie am wirkungsvollsten zum Kampf gegen Not, Armut und Ungerechtigkeit beiträgt. Die besten Ideen zur Bewältigung der Armut stammen ihrer Meinung nach von Persönlichkeiten wie Muhammad Yunus, Hernado de Soto, Amartya Sen, Frances Moore Lappé, Walden Bello, Raj Patel und Peter Barnes. Joyce Appleby erklärt: „Ihnen gemeinsam ist der Wille, die Stärken des Kapitalismus in neuer Weise zu nutzen, um die Lebensumstände aller zu verbessern.“

Schon Karl Marx wollte auf der kapitalistischen Vermögensbasis aufbauen, um mit deren Früchten die gesamte Gesellschaft zu versorgen. Doch er konnte nicht die Gefahren vorhersehen, die sich aus der Verknüpfung wirtschaftlicher und politischer Macht in Gestalt des Staatseigentums ergeben sollten. Joyce Appleby schreibt: „Diese Machtballung führte zu starren Programmen und schuf einen Herrschaftsapparat, der sich dem Volkswillen gegenüber verschloss.“

Von Hans Klumbies