In einem ersten Schritt denkt der Philosoph Josef Pieper darüber nach, was der Begriff „Liebe“ überhaupt bedeutet. Als Zentralgebot des Christentums schließt die Liebe ja auch das Verhalten zum Nächsten mit ein, der als Bild Christi wahrgenommen werden soll. Dabei muss der vielgefächert Charakter der Liebe nicht aus dem Auge gelassen werden. Joseph Pieper beschreibt in seinem Buch „Über die Liebe“ nicht nur das Erotisch-Sexuelle, sondern auch das Bedürfen und Begehren sowie die Liebe zum Kind, zum Freund, zum Schönen, zu Gott und dem eigenen Selbst. Dabei unterscheidet er sehr klar den eros, das Begehren und Habenwollen von der agape, dem Uneigennützigen, Bewundern und Seinlassen. Als dritte Spielform der Liebe nennt Josef Pieper die philia, die Freundschaft in der Spannung auf ein drittes, gemeinsames Geliebtes. Im Lateinischen heißen diese Begriffe amor, caritas und amicitia.
Liebe ist die Stiftung von Identität
Joseph Pieper greift in seinem Buch „Über die Liebe“ auch einige Bestimmungen des platonischen Eros auf. So zum Beispiel das Empfinden einer Wiedervereinigung durch die Liebe. Er folgert dabei: „Liebe schafft nicht nur Einheit, sondern setzt sie schon voraus. Dabei ist Einheit nicht als Unterschiedslosigkeit gedacht, sondern als Einssein von Zweien, als lebendige Spannung, und nicht als totes Eines.“ Liebe ist seiner Meinung nach nicht die Sehnsucht nach Ganzheit, sondern nach erregendem Unterschied.
Der Satz der Liebe heißt bei Josef Pieper nicht: „Ich bin du, oder: Du bist ich. Der Satz lautet vielmehr Du bist mein; ich bin dein.“ Einswerdung heißt nicht Verschmelzung, obwohl dieser fatale Irrtum ständig weiter verbreitet wird. Ebenso wenig wie Liebe blind, sondern ganz im Gegenteil sehend macht, ebenso wenig wird der Geliebte, die Geliebte aufgelöst, sondern sie werden bestätigt und festgehalten. Liebe ist für Josef Pieper nicht die Vernichtung von Identität, sondern Stiftung von Identität. Liebe schafft überhaupt den, der liebt, und das Gegenüber, das geliebt wird.
Der Grundsatz der Liebe heißt: „Es ist gut, dass es dich gibt.“
Die Liebe ist ein unerhörter schöpferischer Akt, denn sie ruft ins Dasein, was noch nie so war. Von daher ist die Verschmelzung in der Liebe eine irreführende Vorstellung, denn sie möchte das Einswerden betonen, löscht dabei aber unversehens die Einswerdenden dabei aus. Der Grundsatz der Liebe lautet bei Josef Pieper, nach dem Erforschen aller Arten der Zuneigung, des Gönnens und des Wollens: „Es ist gut, dass es dich gibt.“ Einen anderen Menschen lieben heißt auch teilzunehmen am Schöpfungswillen Gottes, heißt diesen Urwillen noch einmal wiederholen und bestätigen.
Für Josef Pieper ist alle Liebe auch immer Selbstliebe und dass ist nicht allein legitim, sondern auch sinnvoll und erfüllend. Im Glück des anderen zugleich rückgespiegelt und sich selbst genießen, sich an sich selbst erfreuen, dagegen kann Josef Pieper wahrlich nichts einwenden. Zumal ja dieser zweifache Genuss des einen im anderen gewollt, gewünscht und verursacht ist, denn auch der Liebend-Geliebte will ja auch, dass sich der andere freut. Es gibt in diesem Fall kein einseitiges, isoliertes Glück, sondern dieses Glück besteht in der gegenseitigen Teilhabe und Steigerung durch Resonanz.
Über die Liebe
Josef Pieper
Verlag: Kösel
Gebundene Ausgabe: 240 Seiten, Auflage: 2014
ISBN: 978-3-466-37064-1, 17,99 Euro
Von Hans Klumbies