José Ortega Y Gasset liebt die reine Wahrheit

Für José Ortega Y Gasset wird die Politik zu einer äußerst gefährlichen Krankheit, wenn sie ihren Thron im Gewissen der Menschen einrichtet und in ihr ganzes geistiges Leben hineinregiert. Warum das so ist, sollte eigentlich Jedem klar sein. Solange der Mensch das Nützliche eben als ein Nützliches betrachtet, besteht kein Anlass zur Sorge. Wird aber das Nützlichkeitsstreben innerhalb der Persönlichkeit eines Menschens zur beherrschenden Haltung, so wird er, wenn es darum geht, die Wahrheit zu finden, sie nur allzu leicht mit der Nützlichkeit verwechseln. José Ortega Y Gasset schreibt: „Und aus Nützlichkeit Wahrheit machen, ist eine Umschreibung für lügen. Das Reich der Politik ist somit das Reich der Lüge.“

Die Geschichte der Erkenntnistheorie

Die bitterste, beunruhigendste und befremdlichste Erfahrung, die José Ortega Y Gasset in seinem Leben machen musste, dass unter sämtlichen Arten von Lebewesen, die diese Erde bevölkern, die der aufrichtigen Menschen die seltenste ist. Er hat nach Menschen gesucht, denen es um Wahrheit, um die reine Wahrheit geht, um das, was die Dinge von sich aus sind, und er hat fast niemand gefunden. Er hat so wenige gefunden, dass ihm darüber fast der Atem stockte. José Ortega Y Gasset erklärt: „Eine Seele braucht verwandte Seelen wie Atemluft, und wer die Wahrheit vor allem anderen liebt, hat den Lebenshauch nötig, der von aufrichtigen Seelen ausgeht.“

Für José Ortega Y Gasset ist es nötiger denn je, der Verpflichtung zur Wahrheit und dem Recht auf Wahrheit eine neue Bestätigung zu geben. Die Geschichte der Erkenntnistheorie lehrt die Menschen, dass die zwischen Skeptizismus und Dogmatismus hin und her schwankende Logik zumeist von der irrigen Ansicht ausging, der Blickpunkt des Individuums sei nicht der richtige. Daraus entstanden zwei gegensätzliche Ansichten; zum einen: es gibt keinen anderen Blickpunkt als den individuellen, folglich gibt es keine Wahrheit – also Skeptizismus; zum anderen: es gibt eine Wahrheit, deshalb ist ein überindividueller Blickpunkt einzunehmen – also Rationalismus.

Die Wirklichkeit bricht sich in unzähligen Facetten

José Ortega Y Gasset distanziert sich von beiden Ansichten gleichermaßen. Er behauptet: „Der persönliche Blickpunkt nämlich ist meines Erachtens der einzige, von dem aus die Welt, wie sie in Wahrheit ist, betrachtet werden kann. Alles Übrige ist Mache.“ Die Wirklichkeit kann, eben weil sie die Wirklichkeit ist und sich außerhalb des Verstandes eines Menschen befindet, diesen nur erreichen, wenn sie sich in hunderte von Aspekten aufteilt. Außerdem kann die Wirklichkeit nur von dem Blickpunkt aus betrachtet werden, der einem jeden innerhalb der Welt vom Schicksal zugewiesen ist.

Zwischen Wirklichkeit und Blickpunkt besteht also ein Zusammenhang, und ebenso wenig, wie sich dieser erfinden lässt, ist es möglich, ihn künstlich herzustellen. José Ortega Y Gasset schreibt: „Die Wahrheit, die Wirklichkeit, das Leben, oder wie man es sonst nennen mag, bricht sich in unzähligen Facetten, deren jede sich einem Individuum entgegenwendet.“ Die Wirklichkeit zeigt sich also in individuellen Aspekten. Was für den einen im Hintergrund steht, steht für den anderen im Vordergrund. José Ortega Y Gasset fordert: „Vereinigen wir doch, statt uns zu zanken, unsere Ansichten in selbstloser geistiger Zusammenarbeit, bilden wir doch miteinander den Strom des Wirklichen, so wie aus verschiedenen Bächen der breite, stattliche Fluss wird.“

Von Hans Klumbies

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