Die zwei Schichten der Ideen des José Ortega Y Gasset

Wenn ein Mensch das Leben eines anderen Menschen verstehen will, muss er sich laut José Ortega Y Gasset ein Bild von seinen Ideen machen. Seit der Europäer einen historischen Sinn zu haben glaubt, ist das die elementarste Forderung. Unter den Ideen eines Menschen kann man sehr verschiedene Dinge verstehen, so beispielsweise die Gedanken, die er sich über dieses und jenes macht, und diejenigen, die seines Mitmenschen, die er sich zu eigen macht. Diese Ideen können die verschiedensten Grade der Wahrheit aufweisen und sogar wissenschaftliche Wahrheiten sein. Ob es nun einfache Gedanken des alltäglichen Lebens oder wissenschaftliche Theorien im strengen Sinne des Wortes sind, immer wird es sich um Einfälle handeln, die einem Menschen zufliegen, seine eigenen oder durch die Mitmenschen eingeflüsterte.

Die Grundideen der Glaubensgewissheiten

Für José Ortega Y Gasset war der Mensch schon da, ehe ihm der Gedanke kam, den er sich zu eigen machte. Der Gedanke entsteht, auf die eine oder andere Art, im Inneren eines Lebens, das vor ihm da war. Allerdings gibt es kein menschliches Leben, das nicht von Beginn an auf bestimmte fundamentale Glaubensgewissheiten basiert und sozusagen auf ihnen errichtet wurde. José Ortega Y Gasset definiert das Leben wie folgt: „Leben heißt, es mit etwas zu tun haben – mit der Welt und mit sich selbst.“ Aber diese Welt und das Selbst, in dem der Mensch sich vorfindet, erscheinen ihm schon in der Form von Interpretationen, das heißt von Ideen über die Welt und sein Selbst.

José Ortega Y Gasset versteht darunter eine andere Schicht von Ideen, die ein Mensch hat, aber wie verschieden von allen jenen, die ihm einfallen oder die er sich von anderen aneignet. Der spanische Philosoph schreibt: „Diese Grundideen, die ich Glaubensgewissheiten nenne, tauchen nicht eines Tages oder zu einer gewissen Stunde innerhalb unseres Lebens auf, wir kommen zu ihnen nicht durch einen besonderen Denkakt; es sind mit einem Wort keine Gedanken, die wir haben, noch sind es Einfälle, nicht einmal von jener durch ihre logische Vollkommenheit ausgezeichneten Art, die wir als wissenschaftliche Erkenntnisse bezeichnen.“

Glaubensgewissheiten vermischen sich mit der Wirklichkeit

Diese Glaubensgewissheiten bilden laut José Ortega Y Gasset das Festland des menschlichen Lebens und haben deshalb nicht den Charakter von Einzelinhalten. Es sind nicht Ideen, die ein Mensch hat, sondern Ideen, die ein Mensch ist. Weil sie fundamentale Glaubensgewissheiten sind, vermischen sie sich mit der Wirklichkeit selbst, werden so zur Welt und zum Sein des Menschen und verlieren dadurch den Charakter von Ideen und Gedanken, die ihm hätten einfallen können.

José Ortega Y Gasset verdeutlicht noch einmal die Unterschiede zwischen diesen beiden Schichten von Ideen und schreibt: „Von den Gedanken, die uns einfallen und die wir uns zu eigen machen, können wir sagen, dass wir sie hervorbringen, stützen, erörtern, verbreiten, für sie kämpfen, ja sogar imstande sind für sie zu sterben. Was wir aber nicht können, aus ihnen leben.“ Die Glaubensgewissheiten stehen dieser Art von Ideen diametral gegenüber. Mit ihnen macht der Mensch im Grunde überhaupt nichts, er lebt einfach in ihnen. Schon im Volksmund heißt es: im Glauben ist man, einen Gedanken hat man.

Von Hans Klumbies