Bertrand Russell erfand das Spiel „Chicken“

Im Jahr 1955 legte der Philosoph Bertrand Russell ein einflussreiches Manifest vor, das atomare Abrüstung forderte. Er hatte es gemeinsam mit Albert Einstein verfasst. Doch ein paar Jahre später beeinflusste Bertrand Russell die Abrüstungsdebatte noch stärker. Er veröffentlichte ein Spiel, das er „Chicken“ genannt hatte. Jonathan Aldred erklärt: „Russell stellte sich die USA und die UdSSR als zwei rivalisierende junge Autofahrer vor, die auf einer langen, gerade Straße aufeinander zurasen. Falls keiner von ihnen ausweicht, werden beide sterben. Doch der Feigling, der als Erster ausweicht – das „Chicken“ –, würde sich die ewige Verachtung seines Rivalen zuziehen.“ Jonathan Aldred ist Direktor of Studies in Ökonomie am Emmanuel College. Außerdem lehrt er als Newton Trust Lecturer am Department of Land Economy der University of Cambridge.

Die Atommächte befanden sich in einer Pattsituation

In Diskussionen unter Strategen des Kalten Krieges, Spieltheoretikern und Studenten wurde „Chicken“ bald zu einem Benchmark-Spiel. In seinem einflussreichen Wälzer „On Thermonuclear War“ hatte der RAND-Stratege Herman Kahn 1960 das Chicken-Spiel verwendet. Darin beschreibt er die Pattsituation zwischen den Atommächten. Die RAND Corporation gründete man nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Aufgabe war es, die amerikanischen Streitkräfte zu beraten.

Bertrand Russell stellte die Frage, wieso es in Kreisen der RAND Corporation moralisch akzeptabel zu sein schien, „Chicken“ um den hohen Einsatz eines Atomkriegs zu spielen. Teenager, die das Spiel für einen viel niedrigeren Einsatz spielten, kritisierte man dafür. Bertrand Russell schreibt: „Solange das Chicken-Spiel von jugendlichen Plutokraten gespielt wird, nennt man es dekadent und unmoralisch. Obgleich nur die beiden Spieler ihr Leben riskieren. Wird dieses Spiel jedoch von regierenden Staatsmännern gespielt … so hält jede Seite ihre Staatsmänner für Musterbeispiele an Mut und Weisheit und nur die Staatsmänner der anderen Seite für verächtlich.“

Die Kubakrise hätte zum Atomkrieg führen können

In einer solchen Situation kann die Spieltheorie nicht vorhersagen, was passiert oder passieren sollte. Die Bedeutung dieser Einschränkung trat zwei Jahre später im Kontext der Kubakrise zutage. Im Oktober 1962 weigerten sich sowohl die USA als auch die UdSSR in ihrem Konflikt über die Stationierung russischer Atomraketen auf Kuba nachzugeben. Für beide Seiten war offensichtlich, dass sie „Chicken“ spielten. Oder anders gefragt: welche Seit würde zuerst nachgeben?

Ein Fehler konnte totale Vernichtung bedeuten. Jonathan Aldred blickt zurück: „Die meisten Historiker sind sich einig, dass die Welt noch nie dichter an den Abgrund eine regelrechten Atomkriegs geraten ist als während der Kubakrise.“ Eine Drohung ist nur glaubwürdig, wenn der drohende Spieler dadurch, dass er die Drohung wahr macht, keinen Nachteil erleidet. Der deutsche Volkswirt und Mathematiker Reinhard Selten verallgemeinerte und erweiterte diese Idee auf sehr clevere Weise. Er argumentierte, dass die Spieler in keiner Phase eines Spiels Entscheidungen treffen werden, durch die sie schlechter abschneiden würden, ganz gleich, was sie vorher gesagt haben. Quelle: „Der korrumpierte Mensch“ von Jonathan Aldred

Von Hans Klumbies

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