Die Präsentation des wirklichen Ichs macht sehr verletzlich

Die meisten Menschen haben sich schon immer für die Welt um sich herum herausgeputzt, ihre besten Seiten herausgekehrt und ihre Fehler, so gut es ging, versteckt oder getarnt. Und so machen sie es auch heute noch in hohem Maß. John Bargh erläutert: „Jeder, der schon einmal auf Facebook, Instagram oder einem anderen sozialen Medium war, weiß, dass die Leute viel Zeit und Sorgfalt darauf verwenden, Upgrade-Versionen ihrer selbst zu präsentieren, das Bild eines Lebens zu zeichnen, das perfekter erscheint, als es tatsächlich ist.“ Manchmal sind diese „Personen“ rein fiktiv, wie etwa beim sogenannten Catfishing. Prof. Dr. John Bargh ist Professor für Psychologie an der Yale University, wo er das Automaticity in Cognition, Motivation, and Evaluation (ACME) Laboratory leitet.

Filter spielen in den sozialen Medien eine große Rolle

John Bargh weiß: „Unser „wirkliches Ich“, unser Inneres jemand anderem offenzulegen, setzt viel Vertrauen voraus, denn es macht uns sehr verletzlich, vor allem wenn gewisse Teil des „wirklichen Ichs“ von der Gesellschaft oder unserer Umwelt schlecht angesehen sind.“ Über die sozialen Medien kann man Beziehungen zu Menschen entwickeln, denen man im wirklichen Leben vielleicht keinerlei Beachtung schenken würde. Hier spielen Attraktivität oder das Gesicht keine Rolle, nach denen viele Menschen im wirklichen Leben bei einer persönlichen Begegnung andere Personen taxieren.

„Diese Filter ermöglichen manchen Menschen, Zugang zu uns zu bekommen, aber viele andere blocken sie ab. Viele potenziell großartige Liebesbeziehungen kommen nicht zustande, weil wir diesen Zugangskriterien derart große Bedeutung zumessen, vor allem der körperlichen Attraktivität eines Menschen oder seinem allgemeinen Erscheinungsbild“, erklärt John Bargh. Wir sollten besser Friedrich Nietzsches Rat beherzigen und jemanden heiraten, mit dem man sich unterhalten kann, denn der größte Teil des gemeinsamen Lebens findet statt, nachdem die Rose verblüht ist.

Ein Drittel der Paare lernt sich über das Internet kennen

Weil viele Formen der sozialen Medien es ermöglichen, diese Zugangsdaten auszublenden, können Menschen, die sich nicht persönlich, sondern mittels sozialer Medien begegnen, wie beispielsweise in Newsgroups, über E-Mails, Blogs oder in Chatrooms, tatsächlich ebenso stabile und lang anhaltende Beziehungen aufbauen wie jene, die sich im „wirklichen Leben“ kennenlernen. Noch in den 90er-Jahren galt es als verpönt, über das Internet Beziehungen anzubahnen, und es hieß, nur wenige dieser Beziehungen würden die erste persönliche Begegnung überdauern.

Doch seither fand beim Onlinedating eine regelreichte Explosion statt. Eine kürzlich durchgeführte Befragung von rund 20.000 Menschen, die zwischen 2005 und 2012 geheiratet hatten, ergab, dass sich 35 Prozent der Paare über das Internet kennengelernt hatten. Rund die Hälfte von ihnen hatte sich auf Dating-Sites wie eHarmony und Match kennengelernt, die übrigen über soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter, auf Game-Sites, in Chatrooms oder in anderen Online-Communitys. Quelle: „Vor dem Denken“ von John Bargh

Von Hans Klumbies