Der „Werther“ war der erste moderne Roman in Deutschland

Mit Johann Wolfgang von Goethes Werk „Werther“ trat der bürgerliche Roman in Deutschland in Erscheinung. In den „Leiden des jungen Werther“ gestaltete Johann Wolfgang von Goethe den Typus des unzufriedenen bürgerlichen Intellektuellen, dessen Versuche der Integration in die ständisch gegliederte Gesellschaft an der starken Hierarchie wie auch an der eigenen hohen Selbsteinschätzung scheitern. Johann Wolfgang von Goethes Roman zeigt, dass es für das bürgerliche Individuum unmöglich ist, sich innerhalb des Feudalsystems zu definieren und seine Identität zu finden. Werthers Leiden an der Gesellschaft und sein Scheitern – Werther endet durch Selbstmord – lassen ihn als Verwandten jener bürgerlichen Dramenhelden erscheinen, die wie Karl Moor in den „Räubern“ oder Läuffer im „Hofmeister“ ebenfalls an der Gesellschaftsordnung zerbrechen. Die Wirkung von Johann Wolfang von Goethes „Werther“ war ungeheuer.

Johann Wolfgang von Goethe verarbeitete im „Werther“ eigene Erlebnisse

Es brach ein regelrechtes „Wertherfieber“ aus, das sich an der im Roman gestalteten Problematik bürgerlichen Selbstverständnisses im feudalen Staat entzündete. Begeisterte Zustimmung stand neben fanatischer Ablehnung. Insbesondere orthodoxe Theologen diffamierten das Werk wegen angeblicher Verherrlichung des Selbstmordes als „Lockspeise des Satans“ und riefen nach dem Zensor. Tatsächlich wurde der Verkauf des „Werther“ im Jahr 1775 in Leipzig verboten. Ein wichtiger Grund für die epochale Wirkung des „Werther“ lag zum einen an der im Roman gestalteten Problematik des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft.

Zum anderen in der empfindsam dargestellten Liebesgeschichte zwischen Lotte und Werther. Erzählt wurde die Geschichte noch dazu in einer neuen literarischen Form, die beispielhaft für das 19. und 20. Jahrhundert werden sollte. Mit dem „Werther“ schlug die Geburtsstunde des modernen Romans in Deutschland. „Werther“ war kein moralischer Tendenzroman wie zum Beispiel „Die schwedische Gräfin“ oder das „Fräulein von Sternheim“, sondern eine höchst subjektive Konfession in Briefform. Johann Wolfgang von Goethe verarbeitete darin eigene Erlebnisse und den Selbstmord eines Freundes.

Werthers Selbstmord ließ die Leser in tiefster Verwirrung zurück

Er verschmolz beides mit der Epochenerfahrung der jungen bürgerlichen Intelligenz zu einer die damalige Leserschaft provozierenden Form. Daran gewöhnt, vom Autor immer eine klare moralische Wertung des Geschehens mitgeliefert zu bekommen, war die Leserschaft bei der Einschätzung des „Werther“ ganz auf ihr eigenes Urteil gestellt. Die monologische Form des Briefromans – es gibt keine Antworten auf Werthers Briefe – führte zu einer Verabsolutierung der Perspektive des Helden und förderte ein identifikatorisches Lesen.

Sein Selbstmord am Ende musste die Leser in tiefster Verwirrung zurücklassen. Tatsächlich gab es eine erhebliche Anzahl von Selbstmorden unter den Lesern des „Werthers“, die Johann Wolfgang von Goethe bei der zweiten Auflage (1775) veranlasste, dem Buch die mahnende Warnung voranzustellen: „Sei ein Mann, und folge mir nicht nach!“ Die Wirkung des Romans war aber nicht nur auf das 18. Jahrhundert beschränkt. Als Versuch, die Selbstverwirklichung des Individuums zu thematisieren, stellte Johann Wolfgang von Goethes „Werther“ auch für die nachfolgenden Generationen eine Herausforderung dar. Quelle: „Deutsche Literaturgeschichte“ aus dem Verlag J. B. Metzler

Von Hans Klumbies

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