Jede Art des Gehens entspricht einer philosophischen Erfahrung

Die neue Sonderausgabe der Philosophie Magazins hat sich Gedanken zum Thema „Wandern“ gemacht. Und ist dabei unterwegs mit Thea Dorn, Michel Serres, Frédéric Gros, Gerd Kempermann und vielen anderen. Der Leser geht spazieren mit Henry David Thoreau, flaniert mit Walter Benjamin und schweift umher mit Jean-Jacques Rousseau. Im Gespräch mit Catherine Newmark erklärt Kurt Bayertz, Seniorprofessor für Philosophie an der Universität Münster, welche Bedeutung das aufrechte Gehen in der Philosophiegeschichte hat: „Eine Gemeinsamkeit, die sich durch die ganze Ideengeschichte zieht, besteht darin, dass der aufrechte Gang niemals nur als ein bloß zufälliges Faktum angesehen, sondern immer mit dem Wesen des Menschen in Verbindung gebracht wurde.“ In der Antike ist vor allem das Denken, dass als menschliches Alleinstellungsmerkmal aufgefasst und mit dem der aufrechte Gang in Verbindung gebracht wird.

Beim Wandern verspürt man den Taumel der Langsamkeit

Für die einen ist die Natur der größte Inspirationsort für das Denken, für die anderen werden die Großstädte zum Buch des Lebens: Wanderer und Naturliebhaber, Flaneure und Beobachter, die alle denken gehend über die großen Fragen nach. Sage mir, wo du gehst, und ich sage dir wer du bist. Jeder Art des Gehens entspricht laut dem Philosophen Frédéric Gros eine philosophische Erfahrung. Frédéric Gros ist Professor für politisches Denken am Pariser Institut für politische Studien Sciences Po.

Auf die Frage nach dem Sinn des Wanderns antwortet Frédéric Gros: „Man könnte sich sagen, dass man wandert, um fantastische Landschaften zu entdecken und ästhetische Erschütterungen zu erfahren.“ Daneben ist Wandern von verstörender Schlichtheit: Es geht darum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wonach man beim Wandern auch sucht, sind Emotionen, die sich vertiefen, wenn sie geteilt werden. Man wandert, um den Taumel der Langsamkeit zu verspüren. Zu Fuß gehen ist ein Operator der Entschleunigung: des Lebens, der Zeit und des Raumes.

Michel Serres findet beim Wandern manchmal eine andere Welt

Für den großen französischen Denker und Kommunikationstheoretiker Michel Serres ist Schreiben und Gehen eins. Das Gehen lässt in die Welt der Inspiration, des Denkens, der Musik eintreten, eine Welt, die die gleiche Realität hat wie mathematische Idealitäten und Konzepte. Michel Serres fügt hinzu: „Das wahre Leben aber ist das Überleben; das ist etwas anderes. Mein Metier besteht alles in allem darin, mich auf die Suche nach einer anderen Welt zu begeben. Und manchmal finde ich sie im Gehen.“

Aus welchen Tiefen der Geschichte sich die deutsche Wanderlust nährt und welche Verbindungen sie möglicherweise zu weniger unschuldigen Formen des Nationalismus unterhält, weiß die Spezialistin für die deutsche Seele Thea Dorn. Die Philosophin ist zudem tatsächlich geneigt, im Wandern eher etwas Widerständiges zu sehen, weil ihm das Moment der Unberechenbarkeit, der Anarchie nicht auszutreiben ist. Von Friedrich Nietzsche stammt die kluge Empfehlung, dass man sich als Denker von Zeit zu Zeit verlieren müsse, um sich anschließend wiederzufinden. Schöner lässt sich nicht beschreiben, worum es beim Wandern geht.

Von Hans Klumbies