Werte müssen immer neu verhandelt werden

Viele Menschen glauben, es gäbe ein Allheilmittel für oder eigentlich gegen die Pluralisierung. Isolde Charim erläutert: „Mehr noch als die Leitkultur aber mit dieser eng verwoben ist das neueste Kaninchen aus dem Allheilmittel-Hut, die Werte.“ „Unsere“ Werte. Bisher führte die Bildung das Ranking der Allheilmittel an. Nun sind es die Werte. Wobei diese Diskussion meist unterstellt, diese „unsere“ Werte seien ein fixer Katalog, ein feststehender Kanon – und nicht etwas, das immer wieder neu verhandelt wird und werden muss. Dabei unterschlägt diese Diskussion einen zentralen Wert der Demokratie: die Verhandelbarkeit selbst. Die Möglichkeit also, ebenjene Werte immer wieder zu verhandeln und damit umzuschreiben. Die Debatte um die Werte dreht sich immer um das Akzeptieren der Grundwerte. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

Die Grundwerte stecken den Rahmen des Zulässigen ab

Die Migranten, die Neuen, sollen die Grundwerte akzeptieren. Nicht, dass das gänzlich falsch wäre. Die Demokratie steckt mit den Grundwerten den Rahmen des Zulässigen ab. Aber bei der Diskussion geht es nie darum, dass diese Werte selbst diskutiert, dass sie neu bestimmt werden können. Sie treten nur als verfestigte, als fixierte, eben als essenzialisierte Vorstellungen auf, die nicht zu hinterfragen sind. Deshalb geht es beim Appell an die Werte ums Einschwören auf ebendiese Werte – was kein wirklich demokratischer Vorgang ist.

Man kann die „Werte“ aber niemanden eintrichtern. Man kann auch die deutsche oder die österreichische „Kultur“ nicht unter Artenschutz stellen – oder was es sonst an Einhegungen gibt, um Veränderungen abzuwehren. Schon allein weil diese Kultur nicht nur aus ihren Inhalten, nicht nur aus ihren Objekten besteht, sondern – ebenso – aus der Art, sich auf diese Objekte zu beziehen. Deshalb beginnt die Veränderung, die mit „Integration“ nur unzureichend beschrieben ist, viel früher. Sie beginnt weit vor der Übernahme von Inhalten – ob das jetzt die immer ins Treffen geführte Frauenemanzipation, die Menschenrechte oder die Homosexuellenehe ist.

Integration gilt nicht nur für Migranten

„Integration“ ist ein Geschehen, das nicht auf der Ebene der Inhalte stattfindet. Und gerade deshalb ist Integration ein Vorgang, der nicht für die Migranten gilt. Isolde Charim erklärt: „Wenn man sagt, Globalisierung, Migration de-territorialisiere die Menschen, löse sie also aus ihrer territorialen Verankerung, von ihren überkommenen Identitäten, dann muss man sagen: Die Pluralisierung de-territorialisiert alle. Nicht nur jene, die sich physisch bewegt haben.“ In diesem Sinn bedeutet die Pluralisierung nicht nur eine Veränderung der Anderen.

Die Pluralisierung verändert eben auch die Einheimischen. Sie verändert ihre Zugehörigkeiten, also die Art, wie sie der Gesellschaft angehören. Aber sie verändert auch die eigene Identität. Und das ist vielleicht die tiefgehendste Veränderung. Sie verändert das Innerste und damit das Verhältnis zu sich selbst. Eine heterogene, eine pluralisierte, eine vielfältige Gesellschaft bedeutet, dass man ihr nicht mehr ganz, nicht mehr direkt, nicht mehr selbstverständlich angehört. Und eine heterogene Gesellschaft bedeutet auch, dass sich das eigene Ich verändert – man ist nicht mehr ganz. Quelle: „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim

Von Hans Klumbies

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