Die Bewegung des Individualismus entstand bereits um 1800

Isolde Charim stellt fest, dass die Individualisierung nicht erst mit den modernen Gesellschaften des Westens aufkommt, sondern eine viel ältere Bewegung ist, die bereits um 1800 herum entstand: „In dieser Bewegung, die man als das erste Zeitalter des Individualismus bezeichnen könnte, tritt der Einzelne aus seinem vorgegebenen Zusammenhängen heraus.“ Dieser erste, aus der heutigen Perspektive der „alte“ Individualismus hat den Einzelnen aus den Festschreibungen der Ständegesellschaft befreit. Es hört sich widersprüchlich an, aber Individualismus bedeutete, dass die Individuen alle gleich werden. Denn ein Individuum war man eben als Staatsbürger, als Wähler, als juristisches Subjekt – also dort, wo man von allen Unterschieden, von allen Besonderheiten wie Stand, Klasse oder Religion absah. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

Als öffentliche Person werden Menschen Gleiche

Es war dies das Individuum von Großformationen wie Nationen oder Parteien. Dieses Individuum betrat als Gleicher die öffentliche Arena. Isolde Charim erklärt: „Dieser alte Individualismus war also – und das ist hier das Entscheidende – ein anderer Individualismus als unser heutiger. Er war die Herstellung eines anderen Typus von Individuum.“ Denn das Rechtssubjekt, der Wähler, der Staatsbürger entsteht durch Abstraktion. Privat, als Einzelne sind die Individuen je konkret und unterschiedlich.

Als öffentliche Person aber werden sie Gleiche gerade durch die Abstraktion von dem, was sie unterscheidet. Das heißt, nur unter Absehung ihrer spezifischen Differenz werden sie gleiche Teile des Ganzen – gleiche Teile des Souveräns. Insofern ist das Verbindende zwischen den Individuen die Abstraktion von ihren spezifischen Bestimmungen. Gleicher Teil des Ganzen ist man nur, wenn man von dem absieht, was Menschen unterscheidet. Diese abstrakte Allgemeinheit des universellen Individuums wird bei Wahlen, sie wird beim Wähler besonders augenfällig.

Bei Wahlen wird jede Person zu einer Zahl

Isolde Charim erläutert: „Bei Wahlen gilt: einen Person – eine Stimme. Egal, wie verschieden wir sind – als Wähler sind wir alle gleich. Jeder zählt als Einer. Jeder hat den gleichen Anteil. Deshalb werden die Stimmen auch gezählt und nicht gewichtet, nicht gewertet. Jede Stimme ist gleich viel wert.“ Aber warum eigentlich? Weil man als Wähler alle seine Besonderheiten abstreift. Weil man bei Wahlen von dem absieht, was Menschen unterscheidet. Das heiß: Beim Wählen lösen sich alle Unterschiede in einer Zahl auf. Egal, wer man ist, jede Person wird zu einer Zahl.

Das allgemeine Wahlrecht hat die Menschen zu Gleichen gemacht – aber zu arithmetisch Gleichen. Isolde Charim weiß, dass es ein langer und teilweise blutiger Prozess war, diese Abstraktion durchzusetzen, denkt man etwa an das Zensus- oder an das Frauenwahlrecht. Es war also historisch ein schwieriger Weg, diesen Citoyen, diese Abstraktion herzustellen. Für die Überlegungen von Isolde Charim ist es entscheidend, dass dieses Individuum nur auf der Grundlage der Abstraktion zum gleichen Teil des Ganzen, zum „politischen Atom“ werden kann, wie der französische Philosoph Claude Lefort den Citoyen genannt hat. Quelle: „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim

Von Hans Klumbies

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