Die homogene Gesellschaft ist eine Illusion

Homogen ist eine Gesellschaft nicht, wenn es keine Unterschiede gibt. Homogen ist sie, wenn man ihr voll und ganz angehören kann. Wenn man sich dieser Illusion hingeben kann. Isolde Charim erläutert: „Denn das ist das Versprechen der homogenen Gesellschaft: Sie versorgt uns mit einer herausragenden Bestimmung, einer Bestimmung, die uns vereinheitlicht, die uns „ganz“ macht, die uns mit einer vollen Identität versieht – auch wenn dies im Freud`schen Sinne immer eine Illusion bleibt.“ Und genau das ist der Punkt, an dem sich der Unterschied zur heutigen Gesellschaft ablesen lässt. Genau das ist der Hintergrund, von dem sich eine pluralistische Gesellschaft abhebt. Die Folie, an der man die Differenzen zur heutigen multikulturellen Gesellschaft ablesen kann. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

Milieus erodieren und ihre Grenzen weichen sich auf

Die Menschen in modernen Gesellschaften leben nicht mehr in einer Welt der Homogenität. Diese ist in den letzten zwanzig, dreißig Jahren langsam verschwunden. Verschwunden trifft es vielleicht nicht ganz. In einer schleichenden Entwicklung. Und zwar auf allen Ebenen. Diese einheitliche Welt ist auf der ganz materiellen Ebene verschwunden. Verschwunden trifft es vielleicht nicht ganz. Aber sie hat eine massive Veränderung erfahren. Die Pluralisierung der Gesellschaft beschränkt sich natürlich nicht nur auf technologische Entwicklungen.

Auch die anderen Ebenen der Homogenisierung haben sich verschoben: Die emotionale Gleichstimmung ist in einem Europa der offenen Grenzen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Vor allem aber der nationale Typus und dessen Milieu haben sich verändert. Milieus erodieren. Ihre Grenzen weichen sich auf. Den Takt geben sie längst nicht mehr vor. Wenn die Nation heute wieder vermehrt auftaucht, dann ist das für Isolde Charim noch lange kein Einspruch gegen die These von ihrer Erosion.

Die Berufung auf die Nation ist nach innen spaltend

Paradoxerweise ist das Comeback der Nationen sogar eine Bestätigung der These von ihrer Erosion. Denn das, was da wiederkehrt, ist nicht die alte Nation. Das, was da wiederkehrt, ist nicht eine politische Erzählung, um eine heterogene Masse zu verbinden. Es ist nicht eine Erzählung, die eine Vielfalt zu einer Gesellschaft verbinden will. Die Nation Großbritannien, die sich heute aus dem Einspruch gegen die Europäische Union (EU) zurückgewinnen möchte, diese Nation ist eine andere geworden. Von einer verbindenden Erzählung ist sie zu einer spaltenden geworden.

Das englische Beispiel aber zeigt deutlich: Heute, wo die Fiktion nicht mehr glaubwürdig ist, ist die Berufung auf die Nation nach innen spaltend. Die Nation hat sich verändert – von einer äußeren zu einer inneren Grenze. Diese Nation kann kein umfassendes Wir, sie kann nur noch ein halbes Wir herstellen. Ebenso wenig wie sie noch ein einheitliches Milieu bilden kann. Und genau dadurch bestätigt dieses Comeback aber den Befund: In der pluralistischen Gesellschaft verschwindet die Nation nicht. Aber sie erodiert. Quelle: „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim

Von Hans Klumbies