Viele Menschen machen sich selbst zum Ding

Theodor W. Adorno spricht von der systematischen Schaffung eines „verdinglichten Bewusstseins“, das sich stillschweigend in den demokratischen Ländern ausbreitet. Es führt leicht zur massenhaften Identifizierung mit einem Kollektiv sowie zu einer Gleichschaltung. Diese reagiert sofort auf jeglichen Ausdruck von Andersartigkeit. Isabella Guanzini erläutert: „Diese Tendenz, sich gegen das Abweichende, gegen Leid und Angst zu panzern, verwandelt die Subjekte in Dinge.“ Wer sich selbst zu einem Ding macht, neigt zwangsläufig dazu, die anderen ebenfalls ausnahmslos als Dinge zu behandeln. Dadurch entsteht ein Klima, in dem das grundlegende Erleben von Nähe und Mitgefühl fehlt. Diese verdinglichte und apathische Atmosphäre geht mit der allgemein verbreiteten Bereitschaft zur Verdrängung des Geschehenen einher. Daher kann eine reife und bewusste Aufarbeitung des Grauens von Auschwitz nicht stattfinden. Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.

Theodor W. Adorno bekämpft die Verdinglichung des Selbst

Was Theodor W. Adorno unermüdlich bekämpft, ist das rückwärtsgewandte Ideal des Menschen, der in der Schule der Konkurrenz und des technologischen Fetischismus herangebildet wird. Getrimmt auf Härte, Unerschütterlichkeit und Funktionalismus, wird er gleichgültig für subjektive Unterschiede und macht „die anderen den Dingen gleich“. Die Verdinglichung des Selbst und die Erlangung männlicher „Reife“ sowie die Unfähigkeit, sich der Zerbrechlichkeit und inneren Kluft eines jeden Menschen bewusst zu werden, ist letztlich das Ergebnis einer verfehlten Aufarbeitung der Vergangenheit und einer fatalen Gefühllosigkeit gegenüber der Gegenwart.

In einer solchen psychologischen und pädagogischen Sicht entspricht Zärtlichkeit einer gravierenden Schwäche des Geistes. Sie ist vergleichbar mit einer falschen Körperhaltung. Man muss geradlinig bleiben, darf keiner Regung nachgeben, die übertrieben mütterliche Züge hätte. Denn sie wäre somit einer Gesellschaft unwürdig, die lediglich von Männern repräsentiert und regiert wird. Diese systematische Verdrängung der Zärtlichkeit aus der Grammatik des Lebens erzeugt ein mangelndes Gespür für die Qualität des Zusammenlebens, was verheerende Folgen hat. Für jede Kultur, wie angesehen und fortschrittlich sie auch sei.

Die Zärtlichkeit erweckt den Gemeinschaftssinns

Die angebliche Selbstbeherrschung speist sich aus einer unerschütterlichen physischen und psychologischen Geradlinigkeit. Dadurch lässt sie ein atomistisches und tendenziell erbarmungsloses gesellschaftliches Panorama entstehen. In diesem können sich die Menschen nur schwer begegnen. Außer, um sich gegenseitig anzugreifen. Schon die Philosophie der Antike hatte eine Ahnung davon. Und zwar nicht nur auf anthropologischer und gesellschaftlicher Ebene, sondern bereits auf kosmologischer und physikalischer Ebene.

Die Zärtlichkeit ist eine Kraft, die auf die allzu strengen und selbstreferentiellen Bahnen von Individuen einwirken kann, sie zu stark auf sich selbst konzentriert sind. Dadurch erweckt sie eine andere Dimension des Gemeinschaftssinns. Isabella Guanzini stellt fest: „Die Zärtlichkeit macht uns weicher, entgegenkommender und zugänglicher für Begegnungen: Sie ist das „clinamen“ unserer Hartherzigkeit und bewirkt, dass wir uns den anderen zuneigen.“ Quelle: „Zärtlichkeit“ von Isabella Guanzini

Von Hans Klumbies