In der modernen Gesellschaft sind viele Menschen tief verunsichert

Ein Übermaß an Liberalität und Egalitarismus reduziert die menschliche Gemeinschaft auf die engen Grenzen der häuslichen Sphäre. Die große Gesellschaft ist sich selbst überlassen, letztlich jedoch ist der Einzelne dem Konformismus der öffentlichen Meinung unterworfen. Isabelle Guanzini stellt fest: „Die demokratische Gleichheit löst gesellschaftliche Fesseln und überlässt das Individuum dem Despotismus einer „gewaltigen, bevormundenden Macht“, die in bürokratischen Systemen und neuen Intoleranzen gegenüber Differenzen und Abweichungen besteht.“ Die konformistische Leidenschaft der modernen Gesellschaft braucht keine Gewalt anzuwenden, um das Gewissen der Menschen zu konditionieren und ihnen Normen aufzuzwingen. Sie benutzt „milde“ Praktiken der Disziplinierung, die auf eine unbewusste Verinnerlichung ihrer Dispositive zielen. So wirken sie, ohne reflektiert zu werden. Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.

Die Virtualisierung der Welt berührt das Gefühlsleben aller Generationen

Der moderne Mensch hat sich von den präindividualistischen Abhängigkeiten der vormodernen Gemeinschaften emanzipiert, die dem Menschen Autonomie und Freiheit verwehrten, ihm jedoch Sicherheit, Ordnung und Halt garantierten. Während er immer mehr Freiheit, Rechte und Autonomie erlangte, fand er sich dennoch in einer Situation tiefer Unsicherheit wieder, denn nun war er einer heimtückischen und alles durchdringenden Biomacht unterworfen.

Die durch den Prozess der Globalisierung und Virtualisierung der Welt sich radikal verändernde Gesellschaft des 21. Jahrhunderts wirft neue Fragen und Widersprüche auf, die das Gefühlsleben aller Generationen berühren. Isabella Guanzini erläutert: „Sie offenbaren sich weniger in Bildern von Bergwerken, Fließbändern, geschmolzenem Stahl und ratternden Pressen, auch wenn diese nach wie vor an der Tagesordnung sind, sondern vielmehr in Form von Informationsströmen, Input, Output und digitalen Verbindungen.“

Eine allgemeine Schwermut ist in der modernen Gesellschaft nicht zu übersehen

In diesem Prozess der Verdunstung der Materie, der den Regeln eines globalen Systems mit unglaublichen Möglichkeiten und unendlich vernetzter Kommunikation folgt, wird nun eine andere Art von Belastung und Undurchschaubarkeit der Wirklichkeit wahrnehmbar, die das Gefühlsleben der Weltbürger eintrübt und einer neuen Form von „Schwerkraft“ unterwirft. Beobachtet Isabella Guanzini die Frauen, Männer und Jugendlichen der postmodernen Zeit, so stellt sie fest, dass eine allgemeine Schwermut unübersehbar ist, als sei eine kosmische Hintergrundstrahlung, die Depression und Euphorie zugleich verbreitet, irgendwo durch eine Explosion entstanden.

Sie ist wie ein Nebel aus „traurigen Leidenschaften“ oder einer atmosphärischen Müdigkeit, der in die Stimmung der modernen Städte dringt, an die Orte, an denen die Menschen leben und arbeiten. Isabella Guanzini sieht, wie schwierig es für moderne Subjekte ist, über Orientierungspunkte zu verfügen, sei es, um eigene Entscheidungen klar zu vertreten, sei es, um Situationen zu analysieren, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen. Manche sprechen von einer neuen psychischen Ordnung: Es handelt sich um keinen Wandel auf gesellschaftlicher Ebene und dessen Auswirkungen auf die Subjektivität des Einzelnen, sondern eine Umwälzung völlig neuer Art ist im Gange, die Auswirkungen sowohl auf das kollektive Leben als auch auf das Individuum hat. Quelle: „Zärtlichkeit“ von Isabella Guanzini

Von Hans Klumbies