Isabella Guanzini vertritt die These, dass vor allem die junge Generation heutzutage chronisch erschöpft ist. Das liegt nicht daran, dass sie ihre Energie verausgabt, sondern dass es vergeudete und sinnlose Energien sind. Die Jugendlichen sind heute gewissermaßen „energetisch“ fehlgeleitet: entweder außer Rand und Band oder zu lau. Isabelle Guanzini weiß: „Grund dafür ist das allgegenwärtige, wenn auch nicht immer ausgesprochene Bewusstsein, dass es sowieso keinen Sinn hat.“ Friedrich Nietzsche definierte diese sehr treffend: „Nihilismus: es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das Warum? Was bedeutet Nihilismus? – das die obersten Werte sich entwerten.“ Verstehen wird man mich erst in einem Jahrhundert, fügte er noch hinzu. Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.
Fehlende Orientierung führt zur Ermüdung
In einem fulminanten Aufsatz, den er 1914 kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs schrieb, zeichnete Walter Benjamin ein intensives und sehnsuchtsvolles Porträt der ambivalenten Jugend seiner Zeit, die viel mit der heutigen gemeinsam hat: „Eine Generation will wieder am Scheideweg stehen, aber nirgends ist die Wegscheide. Jede Jugend musste wählen, aber die Gegenstände ihrer Wahl waren ihr bestimmt. Die neue Jugend steht vor dem Chaos, in dem die Gegenstände ihrer Wahl – die heiligen – verschwinden.“
Orientierung im Leben zu suchen – in einer Zeit des Untergangs der metaphysischen Gewissheiten, des Endes der politischen Ideale und der großen symbolischen Erzählungen – und keine Orientierung zu finden, weil jedes aussagekräftiges Zeichen fehlt, jeglicher verlässliche Hinweis und jedes Wort einer anerkannten Autorität – das ist der Widerspruch, der die Gegenwart durchdringt und Tag für Tag übermüdete Existenzen hervorbringt. Isabella Guanzini erläutert: „Dieser Widerspruch kann sich als Zweifel äußern, als Misstrauen, als Schwierigkeit, sich ganz zu „verschenken“, oder als fortwährende Aushöhlung der Symbole und Mythen.“
Ohnmacht und ein starkes Unbehagen sind weit verbreitet
Im schlimmsten Fall entlädt sich dieser Widerspruch im gewalttätigsten Radikalismus, wenn sich in Ermangelung besserer Alternativen der ungestillte jugendliche Hunger nach Absolutem in die bedingungslose Hingabe an eine extreme Sache verwandelt. Letztlich kommt die Ambivalenz in einer verbreiteten emotionalen Dissonanz zum Ausdruck, die jeglichem langfristigen Handeln Energien raubt. Die Folge ist eine gewisse Ohnmacht, eine unruhige Passivität, rasender Stillstand und ein starkes Unbehagen.
Der Grund für das neue Unbehagen der Jugendlichen ist nicht ein Übermaß an patriarchaler Autorität, deren ehernes Gesetz jeden Ausdruck von Einzigartigkeit und jeden Anflug von Freiheit unterdrückt. Die entscheidende Frage ist nicht mehr der Konflikt zwischen den Generationen, sondern ein allgemeines Erlöschen, die systematische Schwierigkeit, einen Sinn in etwas zu finden, sich neue Konstellationen vorzustellen und ein intensiveres Leben zu erträumen. Es geht um die Erfahrung eines erschöpften Begehrens, welche die Existenz auf sich selbst zurückwirft und sie von allem Möglichen abhängig macht – von Technik bis hin zu Drogen, von charismatischen Führern bis hin zu religiösen Sekten. Quelle: „Zärtlichkeit“ von Isabella Guanzini
Von Hans Klumbies