In vielen Gesellschaften hat ein Klima der Unverzeihlichkeit Einzug gehalten. Man unterstellt einander von vornherein die schlechtesten statt die besten Absichten. Judith Kohlenberger fügt hinzu: „In der Krise ist man sich selbst der Nächste, was auch populistischer Stimmungsmache zupass kommt. In der öffentlichen Debatte herrschen gegenseitige Schuldzuweisungen, Unverständnis, Unversöhnlichkeit und Unbeherrschtheit.“ Das Level an gesellschaftlicher Empathie ist merkbar gesunken. Auch der Natur gegenüber zeigen sich viele Gesellschaften unerbittlich, wenden immer mehr Gewalt gegen sie an – und damit in letzter Konsequenz gegen sich selbst. Der Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union (EU) wird brutaler. Gesunkene Flüchtlingsschiffe sind nur mehr dann eine Meldung wert, wenn die Opferzahl in die Hunderte geht. Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien und dem Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip).
Kriege sind weltweit auf dem Vormarsch
Ein technologischer Gigantismus, das Erstarken der künstlichen Intelligenz und ein unbarmherziger Algorithmus im Hintergrund tun das ihre, um Menschen weiter auseinander zutreiben, gegenseitiges Vertrauen zu erschüttern und bisher als gesetzt angenommene Wahrheiten radikal infrage zu stellen. Der Ton wird rauer, nicht nur in den sozialen Medien. Judith Kohlenberger stellt fest: „Mit dem anderen reden, sich konstruktiv streiten und buchstäblich zusammenraufen gelingt nicht mehr; lieber nur noch raufen, ohne dass am Ende mehr zusammensteht.“
Die Demokratie dämmert vor sich hin oder wird aktiv untergraben, Kriege sind weltweit auf dem Vormarsch, ökonomische Ungleichheiten verfestigen sich. Judith Kohlenberger ergänzt: „All diese Verwerfungen und Ungewissheiten lassen uns das Eigene noch enger einhegen und die Luken schließen. Die Polykrise hat uns fest im Griff und scheint uns abzuhärten, vor allem gegen die anderen.“ Individuell und auch institutionell-systemisch lässt sich eine Verschiebung in der Qualität , wie Menschen das Miteinander erfahren.
Der Diskurs wird immer weiter ins Extreme verschoben
Dabei handelt es sich um ein Engerziehen der Grenzen um das Wir, das zunehmend ethno-national statt universal definiert wird. Judith Kohlenberger betont: „Nirgendwo sonst zeigt sich das so deutlich wie an Europas Umgang mit Schutzsuchenden, nicht von ungefähr ein bestimmendes Thema der letzten Wahlkämpfe auf Landes- und regionaler Ebene.“ Die Bedrohung der Gegenwart wird im Außen verortet. Und der daraus resultierende „harte Kurs in Sachen Migration“ bleibt nicht folgenlos für jene, die sich diesseits der Grenze befinden.
Restriktive, das Flüchtlingsrecht einschränkende Haltungen tragen dazu bei, dass sich das Overton-Fenster, also die Grenze des Sag- und Machbaren, immer weiter nach rechts verschiebt. Judith Kohlenberger erläutert: „Damit werden rassistische, menschenverachtende Positionen weder als solche offengelegt noch entkräftet, sondern vielmehr salonfähig gemacht: Das offizielle Europa bereitet den Boden für rechte Parteien, die den Diskurs bei nächster Gelegenheit wieder ein Stück ins Extreme verschieben, ihn verrohen und brutalisieren.“ Quelle: „Gegen die neue Härte“ von Judith Kohlenberger
Von Hans Klumbies