In der Demokratie bleiben die Bürger meist Zuschauer

Das Misstrauen gegen Formen der direkten Demokratie ist in Deutschland tief verwurzelt. Laut Lutz Wingert werden Volksabstimmungen schnell mit der Herrschaft von Stimmungen der leicht erregbaren, launischen Bürger gleichgesetzt. Folgerichtig hat der Gesetzgeber Sicherungen gegen ein Übergreifen von unberechenbaren politischen Laien auf die komplizierte Gesetzgebung eingebaut. So müssen sich in Baden-Württemberg zum Beispiel 33 Prozent der Stimmberechtigten an einer Volksabstimmung über ein Gesetz beteiligen. Nur dann wird eine Mehrheit unter ihnen für ein Ja zu einem bindenden Volksentscheid. In Deutschland wird Demokratie scheinbar noch immer maßgeblich als Regieren für das Volk und nicht durch das Volk verstanden. Lutz Wingert ist Professor für Philosophie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und Mitglied des Zentrums für Geschichte des Wissens an der Universität und ETH Zürich.

Volksabstimmungen stärken die Macht der Bürger

In der Demokratie kommen die Bürger gemäß Lutz Wingert, wenn sie keine Verbands- oder Investorenmacht hinter sich stehen haben, in der Regel nur als Zuschauer vor. Er kritisiert: „Ihnen bleibt das Recht, an Wahltagen Generalvollmachten an die vermeintlichen Entscheider auszustellen oder zurückzunehmen. Das ist aber zu wenig.“ Denn zwischen zwei Wahlen werden ja oft weitreichende Entscheidungen getroffen, die teilweise nicht mehr umkehrbar sind.

Zudem werden viele Beschlüsse der politischen Repräsentanten der Bürger nicht ohne den mächtigen Einfluss von Lobbyisten getroffen. Lutz Wingert fordert, dass in einer Demokratie die Stimmabgabe der Bürger ohne Markt- und Verbandsmacht nicht auf eine Preisgabe der Stimme bis zur nächsten Wahl hinauslaufen darf. Seiner Meinung nach können Volksabstimmungen dazu beitragen, dies zu verhindern. Für falsch hält er es jedoch, die repräsentative Demokratie und die Volksabstimmung gegeneinander in Stellung zu bringen.

Volksabstimmungen machen die Demokratie repräsentiver

Denn Repräsentation bedeutet für Lutz Wingert zunächst einmal nur, dass etwas präsent gemacht wird, das zwar abwesend, aber wichtig ist. Er schreibt: „Die gewählten Politiker sind Repräsentanten, die die Stimmen der abwesenden Bürger ebenso zu Gehör bringen sollen, wie sie unbeachtete Aspekte präsent machen sollen.“ Allerdings sind Politiker keine reinen Sprachrohre, da die Meinungen der Bürger bisweilen sehr diffus sind. Sie sollten auch keine Interessenvertreter sein, da sie sich sonst ganz schnell zu Klientelpolitikern entwickeln würden.

Gemäß Lutz Wingert haben Volksabstimmungen die Funktion, die Demokratie repräsentativer zu machen. Er sagt: „Sie können mit ihrem klar umrissenen Sachbezug wichtige, aber bislang in der Debatte abwesende Gesichtspunkte und Alternativen präsent machen.“ Die Bürger können sich auf diese Art und Weise hörbar in die politische Diskussion einmischen und darlegen, was sie eigentlich genau wollen. So wird eine exaktere Repräsentation des Willens der Wähler in einer Sachfrage ermöglicht.

Von Hans Klumbies