Vierundachtzig Prozent der Deutschen blicken 2022 pessimistisch in die Zukunft. Andreas Reckwitz fügt hinzu: „Dies ist das Ergebnis einer Studie der Universität Bonn, die außerdem zeigt, dass der Anteil derjenigen, die erwarten, dass es künftigen Generationen schlechter gehen wir, in den letzten Jahren beständig gewachsen ist.“ Auch wenn Meinungsumfragen mit Vorsicht zu genießen sind: Es ist bemerkenswert, wie stark sich negative gesellschaftliche Zukunftserwartungen seit den 2010er Jahren in vielen westlichen Ländern verfestigt haben. Auch bezogen auf die Problemlösungskompetenz liberaler Demokratien haben sich die Erwartungen flächendeckend eingetrübt: Einer Studie des an der Universität Cambridge angesiedelten Centre for the Future of Democracy zufolge ist bei der Mehrheit der Menschen in den westlichen Gesellschaften ein politischer Vertrauensverlust zu verzeichnen. Andreas Reckwitz ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Psychologische Ratgeber liegen im Trend
Andreas Reckwitz stellt fest: „Während weltweit eine kleine Gruppe von Reichen und Superreichen ökonomisch stark profitiert und im Globalen Süden jenes Gros der Bevölkerung, dessen Leben zuvor von Armut geprägt war, an Einkommen moderat hinzugewonnen hat, gilt für einen großen Teil der Menschen Europas und Nordamerikas, dass ihr Wohlstand stagniert.“ Im Vergleich ist die traditionelle Mittelklasse des Westens also zurückgefallen.
„Meine Trauer wird dich finden“, „Verletzlichkeit macht stark“, „Wenn der Partner geht“ – in den Buchhandlungen und auf dem Markt der Sachbücher der Gegenwart stechen der Umfang und die Relevanz psychologischer Ratgeber ins Auge. Andreas Reckwitz ergänzt: „Auf besonderes Interesse stoßen dabei jene Bücher, die den Umgang mit der Trauer zum Thema haben und die sich mit Trennungen, Verletzlichkeit und Verlustschmerz befassen: Wie bewältige ich das Scheitern einer Beziehung oder beruflicher Hoffnungen?“
Im Populismus dreht sich alles um Verluste
Generell kann man feststellen: Das Individuum hat in der spätmodernen Kultur offenbar eine besondere Sensibilität für Negativereignisse in seiner Biografie entwickelt, die nach einer entsprechenden Bewältigung verlangen. Das gilt auch für den Umgang mit dem Tod. Andreas Reckwitz erklärt: „In der klassischen Moderne ein Tabuthema, finden wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts offensivere Formen des Umgangs mit dem Sterben. Dies zeigt sich an der Hospizbewegung ebenso wie an einer individualisierten Bestattungskultur oder an Formaten gemeinsamer Trauer im digitalen Raum.“
„Make America Great Again“ – Donald Trumps Wahlslogan bringt die Stoßrichtung der wirkmächtigsten Neuentwicklung im politischen Feld der Gegenwart auf den Punkt: des rechten Populismus. Andreas Reckwitz erläutert: „Im Populismus dreht sich alles um Verluste. Seine Wählerbasis sind insbesondere Menschen, die Status- oder Machtverlust erfahren haben oder diese befürchten und einen allgemeinen gesellschaftlichen Niedergang wahrnehmen.“ Das populistische Versprechen lautet, vermeintlich ideale, jedenfalls bessere Verhältnisse, wie sie frühe geherrscht hätten, zwischenzeitlich aber verloren wurden, wiederherzustellen. Quelle: „Verlust“ von Andreas Reckwitz
Von Hans Klumbies