Im Tantra soll die Sexualität in die Ekstase münden

Tantra ist die kraftvolle, die Welt bejahende Seite Indiens. Um das Tantra-Prinzip zu verdeutlichen, hat der große Hindu-Heilige des 19. Jahrhunderts Ramakrishna folgendes Bild verwendet. Er sagte, dass er zwar gerne Zucker esse, aber nicht gerne Zucker werden möchte. In die Welt der Metaphysik übersetzt heißt das, dass er gern am Göttlichen Anteil habe, aber nicht Gott selbst sein wolle. In einem anderen Spruch beschreibt er die Welt als eine Stätte der Freude, in der man essen, trinken und fröhlich sein kann. Das hat große Ähnlichkeit mit einem Satz des Augustinus, der den Mensch aufforderte Gott zu lieben, aber dennoch nach freien Stücken zu handeln.

Im Tantra ist die Sexualität der Inbegriff für die Energie des Lebens

Im Gegensatz zur christlichen Religion bezieht das Tantra-Prinzip seine lebensbejahende Grundhaltung auf die ganze Sinnlichkeit des Menschen, dabei insbesondere auf die Sexualität, den Inbegriff für die Energie des Lebens. Das machte Tantra in den Augen der Christen verdächtig und seitdem haftet an Tatra der Makel des Anrüchigen.

Im Indischen heißt die Lebensenergie Shakti. In den Bildern des tantrischen Systems wird Shakti als das Weibliche verkörpert, was wiederum als die übertragene Energie des Männlichen verstanden wird. So sind Mann und Frau, Gott und Göttin, zwei Hälften, die in ihrer Verschiedenheit doch untrennbar zusammengehören. Im Tantrismus nimmt die Geschlechtlichkeit eine tief symbolische Rolle ein.

Die Leidenschaft befreit den Menschen vom Gefängnis des Ichs

Indem sich der der Mensch seiner Leidenschaft ganz hingibt, seine Leidenschaft benutzt oder eins mit ihr wird, streift er das Gefängnis seines Ichs ab und erfährt sich als Teil einer Ordnung der Welt, die er mag. In der Sexualität des Tantra taucht der Mensch ein in sein Selbst. Diese Erfahrung läuft über eine Art symbolischer Anreicherung der Sexualität.

Das Tantra verfügt über eine Vielzahl von sexuellen Techniken, die die sexuelle Vereinigung zur ekstatischen Erfahrung steigern sollen. Dazu zählen beispielsweise das Murmeln des Mantras OM, bewusstes Atmen und die genaue Beachtung der Reihenfolge bestimmter Rituale.

Das Tantra hat den Hinduismus stark geprägt

Bei der sexuellen Verschmelzung werden auch Yoga-Praktiken verwendet, die vor allem aus dem Tantra-Yoga bekannt sind. Es erstaunt nicht, dass der Erkenntnisweg des Tantra zunächst nur von der Oberschicht und wenigen Eingeweihten beschritten wurde. Später verbreitete sich Tantra bis nach Tibet, wo es den Buddhismus stark beeinflusste, was man daran sieht, dass es dort Darstellungen gibt, die Buddha beim Geschlechtsakt mit seiner göttlichen Shakti zeigen.

In anderen Formen des Tantra wird die Geliebte auch als göttliche Mutter verehrt, die sexuelle Vereinigung in eine geistige, meditative Erfahrung verwandelt. Am stärksten allerdings haben die dionysischen und lebensbejahenden Kräfte des Tantras den heutigen Hinduismus geprägt.

Von Hans Klumbies