In der Leistungskultur herrscht der Wettbewerb

Die radikale Verantwortung für das eigene Ich geht mit einer Aufwertung der persönlichen Initiative und folgerichtig einer Leistungskultur einher, in der ein Mensch fortwährend seine inneren Ressourcen mobilisieren muss, um erfolgreich zu sein. Matthew B. Crawford weiß: „Dies zeigt sich zum Beispiel im verschärften Wettbewerb auf dem typisch „bürgerlichen“ Bildungsweg. Auf jeder Stufe, von der Vorschule bis zu den Zulassungstests für Aufbaustudien, findet eine harte soziale Auslese statt.“ Da man von der Annahme ausgeht, die modernen westlichen Gesellschaften funktionieren nach dem Leistungsprinzip, biete also in einem System ohne starre Strukturen faire Aufstiegschancen, ist das Scheitern mit einem schlimmen Stigma verbunden, als es bei einer realistischeren Vorstellung von der Gesellschaft der Fall wäre. Matthew B. Crawford ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker.

Die Flexibilität ersetzt das Ideal der Erfahrung

Wenn es keine äußeren Zwänge gibt, hängt das, was man aus sich macht, von der Entschlossenheit und den intellektuellen Fähigkeiten des Einzelnen ab. In einer Leistungskultur hingegen misst der Einzelne seinen Status und seinen „Wert“ an seinem materiellen Erfolg. Die radikale Verantwortung für das eigene Selbst beschwört das Schreckgespenst der Unzulänglichkeit herauf. Noch bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war es möglich, ein ganzes Arbeitsleben durch stetige Anhäufung von Erfahrungen zu gestalten und sich die Wertschätzung am Arbeitsplatz zu verdienen – für das, was man aus sich gemacht hatte.

Wie der Soziologe Richard Bennett in seinen Studien über die zeitgenössische Arbeitswelt gezeigt hat, ist eine solche geruhsame Beständigkeit der Identität heute nur noch wenigen vergönnt. Matthew B. Crawford erläutert: „Das Ideal der Erfahrung wurde abgelöst vom Ideal der Flexibilität. Gefordert ist heute eine Allzweckintelligenz von der Art, die uns durch die Aufnahme an einer Eliteuniversität bescheinigt wird, nicht irgendeine besondere Fähigkeit, die man sich vielleicht erworben hat.“

Soziale Mobilität wirkt auf viele Menschen motivierend

Jeder sollte bereit sein, sich immer wieder neu zu erfinden, wie ein guter demokratischer „Übermensch“. In unserem heutigen Wirtschaftssystem, in dem allein der Sieg zählt, ist die Gefahr der Verdammnis zur Realität geworden. Es könnte durchaus sein, dass ein Mensch ganz unten hängen bleibt. Als Tocqueville in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts nach Amerika kam, beeindruckte ihn die „Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen“. Tocqueville schrieb: „Hier tauchen ständig neue Familien aus dem Nichts auf und andere verschwinden wieder.“

Soziale Mobilität ist eine Möglichkeit, eine machtvolle Idee der Gleichheit. Diese wirkt selbst dann motivierend, wenn man sich einstweilen am unteren Ende der Hierarchie befindet. Im gesellschaftlichen Alltag mischen sich Menschen unterschiedlicher Schichten relativ leicht ohne festgelegte Rituale der Ehrerbietung und Herablassung. Dabei erwartet die Gesellschaft von allen eine gewisse demokratische Liebenswürdigkeit. Meinungsumfragen zeigen, dass Amerikaner auch heute noch mehr als die Bürger fast aller anderen Länder davon überzeugt sind, dass jeder, der tüchtig ist, sozial aufsteigen kann. Quelle: „Die Wiedergewinnung des Wirklichen“ von Matthew B. Crawford

Von Hans Klumbies