Im 19. Jahrhundert herrschte eine große Fortschrittsgläubigkeit

Jede einzelne menschliche Verhaltensweise erwächst mehr oder weniger kausal bedingt, entsprechend den Faktoren von „la race, le milieu, le moment“. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Auch wenn sie uns etwas gewollt und schematisch anmutet – die Verwissenschaftlichung der Künste ist ein prägender Faktor der Moderne. Und das damit verbundene Menschenbild bis in die Gegenwart gültig geblieben.“ Es erreicht möglicherweise im Kontext der Diskussion um die Grenzen und Möglichkeiten gentechnischer Manipulierbarkeit und des Einsatzes künstlicher Intelligenz sogar einen neuen Höhepunkt. Bei all der Innovationskraft und Fortschrittsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts darf man nicht vergessen, dass diese Dynamik sich paradoxerweise innerhalb eines rigiden Systems von gesellschaftlichen Regularien und Regeln der Repräsentation abspielte. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Eine Weltausstellung war ein großer Kolonialwarenladen

Selbst die Weltausstellung in Paris war als Basar der Möglichkeiten im Rahmen der Konvention konzipiert. Jürgen Wertheimer erklärt: „Die kühne, futuristische Konstruktion des Eiffelturms einerseits, Parks mit historischen Allegorien und Symbolfiguren andererseits – für das 19. Jahrhundert scheinen dies keine Widersprüche zu sein.“ Europa stellte sich der Welt – so wie Europa sich die Welt vorstellte. Erst erschuf man neue Welten, indem man sie entdeckte, aufdeckte. Dann gestaltete man sie nach europäischen Mustern und Ideen.

Wie in Afrika, das nach und vor der Kolonisation ein Kontinent mit völlig unterschiedlichen politischen Einheiten war. Oder in Amerika, wo praktisch die gesamte präkolumbianische Bevölkerung „ausgetauscht“ worden war. Jürgen Wertheimer ergänzt: „Dann, als letzten Schritt der Aneignung, führte man die kolonisierten Kulturen im Kolonialwarenladen der Weltausstellungen in kleinen, unverfänglichen Pröbchen vor.“ Was war eine Weltausstellung schon sehr viel anderes als ein großer Kolonialwarenladen, in dem Exotika aller Arten feilgeboten wurden.

Die Nationen Europas schufen sich überseeische Parallelimperien

Und fast alle europäische Länder beteiligten sich ohne Bedenken an der „grande bouffe“, an diesem großen Fressen. Jürgen Wertheimer erläutert: „Keiner der Akteure handelte dabei im Namen „Europas“, sondern einzig und allein in dem der jeweiligen Nation, des jeweiligen „Imperiums“. Und fast jedes europäische Land leistete sich ein solches überseeisches Parallelimperium als externes Rohstoff- und Menschenlager.“ Spanien, Portugal, Frankreich, Belgien, England, Deutschland – alle agierten nach demselben Schema.

Alle Nationen agierten auf eigene Faust und in Konkurrenz zu allen anderen, blind für die externen und internen Verwüstungen, die sich auf diese Weise in „transatlantische“, ozeanische Dimensionen vergrößerten. Auch viele der Wissenschaftler und Autoren ließen sich vom Sog der merkwürdigen Expansions- und Fortschrittssucht mitreißen. Jürgen Wertheimer weiß: „Skeptische Stimmen wie diejenigen Wilhelm Raabes oder Joseph Conrads gehörten zu den Ausnahmen.“ Was mit Expansion begann, endet im Innenraum der eigenen, fragwürdig gewordenen Seele. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies