Herbert Schnädelbach stellt die Evidenztheorie der Wahrheit vor

Die Evidenztheorie der Wahrheit versteht das Wahrsein laut Herbert Schnädelbach als unmittelbare Präsenz eines bestimmten Sachverhalts, bei der sich wie bei einer Farbwahrnehmung die Frage gar nicht mehr stellt, ob er so ist, wie er sich zeigt oder nicht. Herbert Schnädelbach zitiert Martin Heidegger, der die Wahrheit als Evidenz als „Seinswahrheit“ bestimmt und behauptet, dass sie der Urteilswahrheit vorausliege. Demnach verstand Martin Heidegger, der von 1889 bis 1976 lebte, phänomenologisches Philosophieren als ein Die-Phänomene-von-ihnen-selbst-her-sehenlassen. Diese Konzeption kann man gemäß Herbert Schnädelbach als exemplarische Charakterisierung des Ideals phänomenologischen Philosophierens ansehen. Vor seiner Emeritierung war Herbert Schnädelbach Professor für Philosophie an den Universitäten Frankfurt am Main, Hamburg und an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Das unmittelbar Evidente kann nicht falsch sein

Herbert Schnädelbach vertritt die These, dass die Evidenztheorie der Wahrheit versucht, die im üblichen Wissensbegriff enthaltene Verknüpfung des Wahrseins mit der Begründung beziehungsweise Rechtfertigung aufzulösen. Herbert Schnädelbach erklärt: „So wie wir es bei einer Rotwahrnehmung unangemessen finden, wenn uns jemand fragt, ob das Gesehene wirklich rot ist oder nicht, soll es auch bei den philosophischen Einsichten sein: Kritische Rückfragen an das angeblich in Evidenz Gewusste sollen sich von der Sache selbst her erübrigen.“

Es ist aber schwierig, dieses Evidenzmodell mit dem intuitiven Vorverständnis der Menschen von Wahrheit in Einklang zu bringen. Denn viele glauben, was wahr ist, müsse auch falsch sein können, denn schließlich bilden Wahrheit und Irrtum ein nicht auflösbares Gegensatzpaar, bei dem sich der Mensch bei Erkennen unvermeidlich orientiert. Herbert Schnädelbach erläutert: „Was hingegen angeblich unmittelbar evident ist, kann nicht falsch sein, sondern nur existieren oder nicht existieren. So gibt es hier auch keinen Übergang zur Urteilswahrheit, die nur dann einen Sinn macht, wenn sie Möglichkeit des Irrtums offenlässt, und dies ist bei der „Seinswahrheit“ nicht der Fall.“

Philosophen sollten auf der Urteilswahrheit bestehen

Wenn somit Philosophen etwas zu wissen glauben, sollten sie laut Herbert Schnädelbach auf der Urteilswahrheit bestehen und sich nicht auf bloße Evidenzen berufen. Denn damit überzeugt man niemanden, da in einem solchen Fall kritische Rückfragen ausgeschlossen sind. Das bedeutet ferner für Herbert Schnädelbach, dass das Prädikat „ist wahr“ nicht auf Gegenstände, Zustände oder Ereignisse anzuwenden ist. Kandidaten für das Wahrsein sind seiner Meinung nach dann allein Urteile, also Aussage- oder Behauptungssätze.

Nicht das, worauf sie sich im Subjektausdruck beziehen, kann gemäß Herbert Schädelbach wahr oder falsch sein, sondern nur das, was davon ausgesagt oder behauptet wird. Somit ist der Begriff „ist wahr“ ein Metaprädikat, das sich sekundär auf schon vollzogene Prädikationen bezieht und nur explizit macht, was in der Regel damit verbunden ist: ein Wahrheitsanspruch, der freilich bestreitbar ist. Herbert Schnädelbach ergänzt: „Evidenzerlebnisse und andere Erfahrungen mögen dazu dienen, solche Ansprüche zu verteidigen oder zu entkräften, aber dies gehört in den Begründungsaspekt des Wissens als wahrer gerechtfertigter Überzeugung.“

Von Hans Klumbies