Die Spontaneität der Jugend lockt und fasziniert die Erwachsenen

Henri Lefebvre will in einem Essay nicht die Situation der Jugend in der zeitgenössischen Gesellschaft, samt ihren Problemen, darstellen, sondern zur Zerstörung der Mythen über die Jugend beitragen und zugleich den Platz dieser Gruppe innerhalb der modernen Gesellschaft sowie die Vielfältigkeit der damit verknüpften Fragen darstellen. Henri Lefebvre schreibt. „Der Mythos der Jugend, gleich dem des Proletariats besteht in einer Reihe philosophischer Behauptungen und ontologisch operierender Überinterpretationen, also solchen, die sich auf ein vorgeblich zu definierendes Sein beziehen.“ In diesem Sinne käme der Jugend ein eigenes Wesen zu, das für sich und durch sich selbst definiert wäre. Sie brächte also ihre besonderen Werte mit, ihre ganz eigene Erfahrung, im Gegensatz zu den angehäuften Erkenntnissen des Erwachsenendaseins. Eine Erfahrung, die sich dem Faktum des Beginnens und dem Geheimnis der Spontaneität verdankt.

Im Verlauf seines Lebens erleidet der Mensch den Verlust seiner Spontaneität

In dieser Weltsicht besteht das menschliche Leben in einem allmählichen oder raschen Verlust der Spontaneität oder in der Vergeudung der Jugendlichkeit. Aus dieser Ideologie lassen sich für Henri Lefebvre mehrere Elemente herausschälen. Er schreibt: „Sie enthält erstens einen Protest gegen die Fetischisierung all dessen, was sich akkumulieren lässt – Erfahrung, Prestige, Wissen, Kapital, ökonomische Macht.“ Zweitens enthält sie seiner Meinung nach Elemente der alten kosmologischen Romantik: die reine und gewalttätige Spontaneität wird so der Jugend ganz allgemein zugeschrieben.  

Nach der Analyse von Henri Lefebvre hält sich die Spontaneität einer Kultur nur so lange, wie sie an Symbole und Bilder gebunden bleibt, die sie übersetzen und, indem sie sie entstehen oder wieder entstehen lassen, fortführen und weitertragen. Ohne Bilder und Symbole poetischer Ordnung sinkt die reine Spontaneität auf das Niveau des rohen Bedürfnisses ab, einem degenerierten, den Künstlichkeiten ausgelieferten Verlangens. In diesem Zusammenhang befeuert für Henri Lefebvre der Begriff der Natur, da er mit der unbedingten Spontaneität und Vitalität verwoben ist, manche Illusion.

Spontaneität kann nur im Schonbereich der Erziehung gedeihen

Die Mythen der Jugend bestärken laut Henri Lefebvre die Mystifikation des Selbst im Individualismus und verwandeln sich in Demagogie. Auch die Jugend ist seiner Meinung nach eine Eroberung der Kultur und somit ein Werk der Zivilisation. Denn der junge Mensch ist auf Fürsorge und Schutz angewiesen, Spontaneität kann deshalb nur im Schonbereich der Erziehung gedeihen, deren erlesenes Produkt sie ist, das Werk fundamentaler Symbole. Es dominieren der Heroismus und die Sensualität, die heftigen Leidenschaften, die Erkenntnis und die Kunst.

Das Misstrauen der Jugend gegenüber den Erwachsenen in der Moderne ist für Henri Lefebvre durchaus allzu verständlich. Er erläutert: „Die Spontaneität feiert Triumphe, weil die Erwachsenen selbst Sehnsucht nach ihr verspüren, eine Sehnsucht, die für sie beinahe mit der nach der Natur verschwimmt.“ Die Spontaneität lockt und fasziniert die Erwachsenen, weil sie ihnen verloren gegangen ist. Die Mythen der Jugend rühren deshalb nicht nur von dieser selbst her, sondern entspringen mehr noch dem schlechten Gewissen der Älteren.

Kurzbiographie: Henri Lefebvre

Henri Lefebvre, der von 1901 bis 1991 lebte, war ein marxistischer Soziologe, Intellektueller und Philosoph. Lage bevor es Mode wurde, die Probleme des Alltagslebens auch für die Theorie der Philosophie, Soziologie und Ästhetik zu reklamieren, hat Henri Lefebvre die Dialektik zwischen Überbau – Kultur, Wissenschaften, Recht, Religion – und der Alltagswelt der Menschen zum Gegenstand der wissenschaftlichen Beobachtung gemacht.

Ein der aufschlussreichsten Arbeiten auf diesem Gebiet ist sein Buch „Einführung in die Modernität“ indem er Ideen, Symbole, menschliche Ausdrucksweisen und Einstellungen betrachtet, die das mitkonstituiert haben, was heute moderne Gesellschaft heißt. Henri Lefebvre zeigt einen Zusammenhang zwischen Handlungen und Problemen auf, in dem die Menschen sich wiedererkennen und der die Findung ihrer Identität ebenso wie ihre Deutung der Welt bestimmt.

Von Hans Klumbies