Die große Gefahr der Marginalisierung der europäischen Kultur

Nach einem halben Jahrhundert seit Beginn der europäischen Integration befindet sich die Europäische Union in einer tief greifenden Krise, von der laut Altbundeskanzler Helmut Schmidt fast alle europäischen Institutionen betroffen sind. Alle vertragsgemäßen Institutionen haben seiner Ansicht nach die öffentliche Meinung der europäischen Nachbarn ohne klare Führung gelassen – davon ausgenommen ist einzig und allein die Europäische Zentralbank (EZB). Helmut Schmidt erklärt: „Auf die Bankenkrise, auf die Schuldenkrise, auf die katastrophal divergierende Auseinanderentwicklung der nationalen Leistungsbilanzen haben die europäischen Organe immer wieder zu spät reagiert. Sie haben auch immer wieder allzu zaghaft reagiert.“ Helmut Schmidt war von 1969 bis 1972 Verteidigungsminister und von 1972 bis 1974 Finanzminister. Von 1974 bis 1982 regierte der SPD-Politiker als fünfter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.

Artikel 23 Absatz 1 des Grundgesetzes

Helmut Schmidt erinnert an den Wortlaut des Artikel 23 Absatz 1 des Grundgesetzes, in dem Deutschland die Mitwirkung bei der Entwicklung der Europäischen Union vorgeschrieben ist. Ebenso ist dort der Grundsatz der Subsidiarität niedergelegt. Daneben schützt dieser Artikel die Grundrechte und regelt das Verfahren bei der Übertragung von deutschen Hoheitsrechten. Helmut Schmidt erläutert den Subsidiaritätsgedanken: „Subsidiarität bedeutet: Das, was die kleine Einheit nicht regeln oder bewältigen kann, das muss die größere Einheit übernehmen. Vom Vorrang eines deutschen Interesses ist dort keine Rede.“

Helmut Schmidt warnt davor, das gemeinsame langfristige strategische Interesse der Europäer nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn die Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur für die Europäer gewaltig verändert. Helmut Schmidt nennt die wichtigsten Veränderungen: „Zunächst kam die Globalisierung der Finanzmärkte. Es folgte sodann die globale Digitalisierung. Beide Entwicklungen schreiten fort. Nur sehr zögerlich hat bisher die öffentliche Meinung in den europäischen Nationen die gewaltigen kulturellen Konsequenzen dieser Entwicklung verstanden.“

Der Weg Europas zur Weltmacht liegt in weiter Ferne

Der Altbundeskanzler macht sich große Sorgen darüber, dass die für die europäische Kultur wichtigste und zugleich bedrohlichste Veränderung den europäischen Nationen noch überhaupt nicht bewusst ist. Helmut Schmidt meint damit die eindeutig bevorstehende Gefahr einer Marginalisierung der europäischen Kultur. Helmut Schmidt erklärt: „Denn die Explosion der Weltbevölkerung ist im Laufe des 20. Jahrhunderts noch immer nicht beendet! Gleichzeitig finden aber in allen europäischen Nationen Überalterung und Schrumpfung statt.“

Die Staaten Europas wollen in der Gegenwart immer noch ihre nationalen Identitäten bewahren. Doch sie werden sie laut Helmut Schmidt überwölben müssen durch das gemeinsame Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der Europäer. Allerdings werden die Europäer seiner Meinung nach lernen müssen, den Aufstieg Chinas, Indiens oder Brasiliens zu ertragen, und ebenso den Aufstieg Indonesiens und anderer muslimischer Staaten. Auf der anderen Seite kann Helmut Schmidt zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht erkennen, wie Europa jemals zu einer Weltmacht zusammenwachsen könnte.

Von Hans Klumbies

 

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