Überall, wo eine Gesellschaft existiert, gibt es auch Solidarität. Émile Durkheim hat 1893 seinen Klassiker über die gesellschaftliche Bedeutung der Arbeitsteilung vorgelegt. Für ihn ist Solidarität zunächst nichts anderes als die Art und Weise der Einbezogenheit in eine soziales Geschehen. Nämlich wie man sich durch rhetorische Tricks gegenseitig zu beeinflussen sucht, wie man Unterscheidungen zwischen seinesgleichen und anderen trifft. Dazu zählt auch, wie man gemeinsam Feste feiert, wie man seine Toten begräbt und nach welchen Regeln man die Arbeit zwischen dem Drinnen des Haushalts und dem Draußen der Produktionsstätte aufteilt. Heinz Bude fügt hinzu: „Dabei kommt man nicht umhin, sich zu verstehen zu geben, inwieweit man sich aufeinander verlassen kann. Und womit man rechnen muss und welche Opfer die Einzelnen zu bringen bereit sind, damit das Ganze funktioniert. Heinz Bude studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Seit dem Jahr 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.
Jede Gesellschaft ist eine moralische Gesellschaft
Man kann gar nicht zuerst an sich denken, denn sonst käme man überhaupt nicht von der Stelle. Ein Mensch spricht immer mit jemanden, er orientiert sich unablässig an anderen. Er schaut ihnen in die Augen und die anderen bringen ihn auf eine Idee. Für Émile Durkheim ist die Gesellschaft als strukturierter Zusammenhang zuerst da. Und daraus ergeben sich dann die Spielräume für den Einzelnen. Diese begreifen sich irgendwann in der sozialen Evolution als füreinander fremde und auf sich selbst bezogene Individuen.
Insofern ist die Solidarität die Basis für den Überbau der Interessengegensätze, der Geschmacksvielfalt und der Glaubenskämpfe. Trotz scheinbar unvereinbarer politischer, kultureller oder sozialer Gegensätze verhindert sie die Auflösung des sozialen Bandes. Dieses verbindet alle miteinander und bindet sie aneinander. Émile Durkheim schreibt: „Die Menschen können nicht zusammen leben, ohne sich zu verstehen, und folglich nicht, ohne sich gegenseitig Opfer zu bringen, ohne sich untereinander stark und dauerhaft zu binden. Jede Gesellschaft ist eine moralische Gesellschaft.“
Die Arbeitsteilung bringt die Menschen näher zusammen
Die Einbeziehung der Einzelnen kann Émile Durkheim zufolge freilich auf zwei sehr unterschiedliche Arten und Weisen geschehen: Man orientiert sich entweder an Ähnlichkeiten nach dem Motto „Gleich zu gleich gesellt sich gern“ oder an Verschiedenheiten nach dem Grundsatz „Gegensätze ziehen sich an“. Die Solidarität nach Ähnlichkeit nennt er „mechanisch“, weil es seiner Auffassung nach offenbar das einfachere Prinzip ist, und die nach Verschiedenheit bezeichnet er als „organische Solidarität“, weil sie ein komplexes Gewebe aus Knoten und Maschen bildet.
Der Clou seines Arguments lautet, dass die Festigkeit des sozialen Bandes im Laufe der historischen Entwicklung zu immer differenzierteren Formen der sozialen Absetzung und immer abstrakteren Vorstellungen der gesellschaftlichen Vermittlung nicht etwa abnimmt, sondern entgegen einer verbreiteten polemischen Nostalgie zunimmt. Die paradoxe Leistung der Schritt für Schritt komplexer sich entfaltenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung besteht darin, dass sie diejenigen, die sie trennt, nur näher zusammenbringt. Quelle: „Solidarität“ von Heinz Bude
Von Hans Klumbies