In ihrem Buch „Wut“ setzt sich Heidi Kastner mit einem verpönten Gefühl auseinander. Die Autorin schreibt: „Wut ist, gelinde gesagt, unangenehm, und zwar sowohl für den, der sie empfindet als auch für den, den sie trifft. Wir kennen die blinde Wut, die kalte Wut, die ohnmächtige Wut, wir sind außer uns vor Wut.“ Wut ist eine von mehreren Basisemotionen, ist also Teil der „conditio humana“ und Teil unseres ureigenen Verhaltensrepertoires. Die fehlende gesellschaftliche Akzeptanz schlägt sich in einer umfangreichen Ratgeberliteratur nieder: 99,9 Prozent aller verfügbaren Buchtitel zum Thema Wut befassen sich mit dem Nicht-Ausleben. Die Wut wird in diesen Büchern meist als Indiz fehlender Selbstakzeptanz interpretiert. Heidi Kastner ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie. Seit 2005 ist sie Chefärztin der Forensischen Abteilung der Landesnervenklinik in Linz.
In der Rage regiert die reine Emotion
Der „Allerwelts-Choleriker“, der spontan, unbeherrscht und jähzornig seine jeweils aktuelle Befindlichkeit auslebt, muss nicht zwingend schon die definierten Grenzen einer Persönlichkeitsstörung überschreiten. Eine besondere Herausforderung stellen jedoch cholerische Chefs dar: Nicht jedem ist es gegeben, derartige Eruptionen ungerührt vorbeiziehen zu lassen, obwohl das mit Sicherheit das probateste Mittel wäre, damit umzugehen. Denn in der Rage fallen Argumente und Fakten nicht auf fruchtbaren Boden, hier regiert die reine Emotion, die Vernunft bleibt außen vor.
Wut auf andere, nach innen gekehrt, verleugnet, ignoriert, „verboten“, kann im wahrsten Sinne des Wortes aus allen Poren dringen, zum Parasiten werden und ihre Wirt unwiderruflich schädigen. Wut, die keinen Adressaten findet oder sich tobend gegen den Empfindenden selbst richtet, ist um nichts gesünder. So wie mit anderen Emotionen ist es allerdings auch bei der Wut möglich, sie nicht völlig offen zu zeigen, sie sich nicht allzu deutlich anmerken zu lassen und in sich zu verschließen, was bisweilen aus strategischen Gründen und gesellschaftlicher Räson durchaus sinnvoll sein kann.
Wut fordert und fördert Lebendigkeit
Dort, wo Menschen aus Anpassung an die geltenden Normen für sich keine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ableiten können, entsteht Wut auf die, die es besser haben. Es entwickelt sich Wut auf die Normen und die Rechtfertigung dafür, sich als „outlaw“ zu positionieren, sich also außerhalb der Regeln zu stellen un die Gegebenheiten ohne gefühlte Einbindung in die Gemeinschaft ausschließlich zum eigenen Vorteil zu nutzen. In solchen Fällen wäre die Erkenntnis äußerst nützlich, dass Wut kein taugliches Lebenskonzept darstellt.
Heidi Kastner schreibt in ihrem Nachwort: „Die Wut hat viele Funktionen, sie vermittelt klare Grenzen, setzt Warnsignale, befreit von der Spannung, die aus Kränkung entsteht, vermittelt uns selbst präzise Einsichten in unsere Schwachstellen und fordert uns auf zu Veränderung, entweder an uns selbst oder an unseren Lebensumständen, sie fordert und fördert Lebendigkeit.“ Wut ist auch eine legitime Methode, mit der unfassbaren Endlichkeit des Lebens zurande zu kommen, sich noch einmal wirklich lebendig zu fühlen, kraftvoll und eigensinnig, stark und einzigartig.
Wut
Ein Plädoyer für ein verpöntes Gefühl
Heidi Kastner
Verlag: Kremayr & Scheriau
Broschierte Ausgabe: 128 Seiten, Auflage 2: 2024
ISBN: 978-3-218-00929-4, 16,00 Euro
Von Hans Klumbies