In seinem Buch „Die neue Völkerwanderung nach Europa“ blickt Hans-Peter Schwarz auf die Konstruktionsfehler des Schengen-Raums und fügt der aktuellen Debatte eine zeithistorische Dimension hinzu. Seit der Zuspitzung der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 steht die Europäische Union (EU) zusehends vor einer Zerreißprobe. Pointiert und präzise analysiert der Autor die Schwierigkeiten dieser Jahrhundertaufgabe und entwirft fünf Leitlinien für einen neuen Kurs der Flüchtlingspolitik. Vor allem zieht Hans-Peter Schwarz auch die Lehren aus der Geschichte und verbindet seine zeithistorische Analyse mit konstruktiven Vorschlägen für ein neues Europa. In den für Gefahren blind gewordenen Demokratien Europas hätte man es sich jedenfalls niemals vorstellen können, urplötzlich mit einem Millionenheer von Flüchtlingen konfrontiert zu werden, das alle Merkmale einer neuen Völkerwanderung aufweist. Hans-Peter Schwarz zählt zu den angesehensten Politologen und Zeithistorikern in Deutschland.
Abschreckung und Hilfe werden wie bisher parallel laufen müssen
Noch hält die Politik den Anschein aufrecht, es handle sich bloß um eine gigantische Katastrophe, der mit einer humanen Rettungsaktion beizukommen sei. Der heftige Meinungsstreit wird noch lange andauern, ob der gewaltige Migrationsdruck in erster Linie als Herausforderung humanitärer Solidarität verstanden werden muss oder doch eher als Bedrohung durch das Hereinströmen entwurzelter Menschenmassen aus Afrika und Asien. Für Hans-Peter Schwarz steht fest: „Natürlich ist der bis vor kurzem ganz unvorstellbare Vorgang beides.“
Abschreckung und Hilfe werden wie bisher parallel laufen müssen. Zum ersten Opfer der neuen Völkerwanderung wurde der naive Glaube an die äußere Sicherheit Europas. Bei den Funktionskrisen des Grenzschutzes und im Asylrecht treten für Hans-Peter Schwarz grundlegende Grundfehler der EU zutage. Jene vielen Millionen entwurzelter Flüchtlinge, die ganz bestimmte Staaten der EU als Zielländer im Blick haben, sind nicht mehr zu verkraften, weder auf den Arbeitsmärkten noch budgetär, noch psychologisch.
Das Asylrecht in Europa muss dringend reformiert werden
In seinen fünf Leitlinien der Umsteuerung fordert Hans-Peter Schwartz unter anderem eine Reform des Asylrechts, die seiner Meinung nach längst überfällig, aber immer noch tabuisiert ist. Außerdem schlägt der Autor vor, die humanitäre Flüchtlingshilfe intelligenter zu organisieren. Außerdem sollte das Ausländerrecht an die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zurückgegeben werden. Dann würden die europäischen Demokratien wieder selbst festlegen müssen, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen möchten und unter welchen Bedingungen.
Hans-Peter Schwarz sieht im Schutz der Außengrenzen und der Bekämpfung der Ursachen, die für die Flüchtlingsströme verantwortlich sind, eine Jahrhundertaufgabe. Zudem muss das Schengen-System viel genauer als bisher auf die Bedürfnisse des Grenzschutzes zugeschnitten werden. Der Autor hält zwar ein Europa mit offenen Grenzen für weiterhin möglich, aber wohl nur als „Schengen light“. Dann müssten sich Drittstaatler, die nicht EU-Bürger sind, wieder damit abfinden, an den Binnengrenzen der EU genauso wachsam kontrolliert zu werden wie dies in außereuropäischen Regionen der Brauch ist. Die EU-Bürger dagegen dürften sich wie bisher der nur leichthin bewachten, offenen Binnengrenzen erfreuen.
Die neue Völkerwanderung nach Europa
Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheiten
Hans-Peter Schwarz
Verlag: DVA
Gebundene Ausgabe: 256 Seiten, Auflage: 2017
ISBN: 978-3-421-04774-8, 19,99 Euro
Von Hans Klumbies