Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Flüchtlinge

Seit Jahrzehnten sind die Wohlfahrtsstaaten Europas an die Aufnahme größerer Flüchtlingsscharen in den eigens dafür geschaffenen Asylsystemen gewöhnt. Die Öffentlichkeit begreift das als eine moderne Form der Armenfürsorge, die nicht, wie es früher die Regel war, nur den eigenen Staatsbürgern zuteil wird, sondern Hilfsbedürftigen aus fernen Ländern und Kulturen. Hans-Peter Klein blickt zurück: „Im ersten Vierteljahrhundert der noch jungen Bundesrepublik galt die Asylpolitik lange als ein Problem von drittklassiger Dringlichkeit. Seit Mitte der 1970er Jahre lässt sich ein wachsender Andrang von Flüchtlingen beobachten. 1976 lag die Zahl der Asylbewerber bei 57.000. Zehn Jahre später waren es rund 100.000.“ Das Thema rückte damals auf der politischen Agenda nach oben, wurde dann aber von einem anderen Vorgang verdrängt, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog: von der Wiedervereinigung. Hans-Peter Schwarz zählt zu den angesehensten Politologen und Zeithistorikern in Deutschland.

In Kriegen suchen die Bedrohten meist Zuflucht in den Nachbarländern

Doch die Erregung der Umbruchjahre 1989/90 war noch nicht recht abgeklungen, da schob sich die Frage der Asylpolitik wieder in den Vordergrund, als seit 1991 – während der Kriege im zerfallenen Jugoslawien – Hunderttausende von Flüchtlingen in Deutschland Zuflucht suchten. Im Grunde war die Massenflucht aus den Kriegsgebieten des Balkans nach Deutschland ein ganz natürlicher Vorgang. Denn in Kriegen oder Bürgerkriegen suchen die Bedrohten in den Nachbarländern Zuflucht, bis wieder bessere Zeiten kommen, und zwar am ehesten dort, wo sich bereits eine beträchtliche Diaspora von Landsleuten befindet.

Nachdem sich die Bundestagsparteien damals für eine restriktivere Asylpolitik entschieden hatten, sank die Zahl der Asylbewerber rasch, und nach dem Ende der Kampfhandlungen kehrte ein großer Teil der Flüchtlinge in die Heimat zurück. Nach dem Abklingen der Balkankriege verfiel die deutsche Asylpolitik wieder in administrative Routine. Und dies, obwohl seit den frühen 1980er Jahren in Teilen Afrikas südlich der Sahara bereits Millionen Menschen auf der Flucht vor ethischer Verfolgung und später auch vor religiös motivierten Kriegen und Bürgerkriegen waren.

Seit den 1980er Jahren gibt es zunehmend ein Weltflüchtlingsproblem

Hans-Peter Schwarz stellt fest: „Wer wollte, konnte bereits erkennen, was sich in fernen Ländern zusammenbraute.“ Die Flüchtlingsströme des 20. Jahrhunderts sind alles andere als eine Naturkatastrophe gewesen, vielmehr das Resultat von Kriegen, Bürgerkriegen, Gewaltherrschaft und wirtschaftlicher Notlage. Rund 250 Millionen Menschen begaben sich in den ersten acht Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf die Flucht. Im Staatslexikon von 1986 heißt es: „Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Flüchtlinge.“

Des Weiteren findet sich im Staatslexikon die Feststellung: „Die internationale Staatengemeinschaft sieht sich in den 80er Jahren zunehmend mit einem Weltflüchtlingsproblem konfrontiert, dass in seinen Ausmaßen mit den Verhältnissen in Europa nach dem 2. Weltkrieg vergleichbar ist.“ Eine akzeptable Bewältigung des Flüchtlingsproblems hängt dabei nicht nur von den Aufnahmestaaten ab, sondern auch von den Flüchtlingen selbst. Die meisten zeigen Bereitschaft, sich einzugliedern. Aber es gibt auch jene Engagierten, die in den Gastländern ihre politischen, ethischen oder religiösen Auseinandersetzungen untereinander fortführen und weiterhin versuchen, auf die Entwicklungen in ihren Heimatländern Einfluss zu nehmen. Quelle: „Die neue Völkerwanderung“ von Hans-Peter Klein

Von Hans Klumbies