Hans-Peter Nolting sucht nach den Wurzeln der Gewalt

Die Suche nach einer gemeinsamen Wurzel von menschlicher Aggression und Gewalt weckt immer großes Interesse. Es ist faszinierend, wenn man eine breite Vielfalt auf ein einziges Grundprinzip zurückführen kann. Von solchen Bemühungen war auch die Aggressionspsychologie lange Zeit geprägt. Hans-Peter Nolting erklärt: „Ein angeborener Aggressionstrieb, Aggression als Reaktion Frustrationen oder Aggression als erlerntes Verhalten – das sind drei Grundideen von bekannten Theorien.“ Inzwischen hat sich die wissenschaftliche Debatte von der Suche nach einer generellen Aggressionserklärung für die Gattung Mensch weitgehend verabschiedet und sich stattdessen vielfältigen Ausschnitten aus dem breiten Spektrum zugewandt. „Ausschnitte“ können vor allem sein: spezielle Erscheinungsformen oder Typen hochaggressiver Menschen oder einzelne Kontextbereiche wie die Familie, die Arbeitswelt, der Sport, die Politik und so weiter. Dr. Hans-Peter Nolting beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Themenkreis Aggression und Gewalt, viele Jahre davon als Dozent für Psychologie an der Universität Göttingen.

Der Eindruck einer wachsenden Verrohung entsteht oft durch die Medien

Wenn es um das Thema Gewalt geht, ist das Wort „Zunahme“ meistens nicht weit. Unter dem Eindruck aktueller Ereignisse kann man sich aber leicht verschätzen. Eine intuitive Schätzung hängt davon ab, woran man sich erinnert. Am ehesten sind dies konkrete Einzelfälle, die man selbst erlebt hat oder die ein großes Thema in den Medien waren. Der Eindruck einer wachsenden Verrohung kann auch durch folgende Weise entstehen: Zu einem bestimmten Problem, beispielsweise Mobbing, wird aus aktuellem Anlass umfangreich in den Medien berichtet, und so wird es zu einem öffentlichen Thema.

Dadurch wird bei vielen Menschen die Aufmerksamkeit für dieses Problem geschärft, und nun entdecken sie ähnliche Vorkommnisse auch in ihrem eigenen Umfeld. Hans-Peter Nolting erläutert: „Fachleute kennen diese Tücken. Sie wissen: Es ist nicht einfach, Häufigkeiten und die Schweregrade kritischer Vorfälle zu erfassen und hinsichtlich verschiedener Zeiträume zu vergleichen.“ Sie sind daher sehr vorsichtig mit Aussagen über eine Zunahme oder Abnahme, solange für die vergleichenden Zeiträume keine Daten vorliegen, die mit denselben Erhebungsmethoden und Zählweisen gewonnen wurden.

Seit dem Mittelalter gingen die Mordquoten in Europa deutlich zurück

Um Zeiträume von ganz anderer Größenordnung geht es in Steven Pinkers Monumentalwerk über die „Geschichte der Gewalt“. Er stützt seine Erkenntnisse auf eine große Menge historischer Daten und trägt unter anderem vor: „Seit dem späten Mittelalter gingen die Mordquoten in den verschiedenen europäischen Staaten deutlich zurück, nämlich auf nur noch ein Zehntel, in manchen Ländern gar auf ein Fünfzigstel.“ Zudem wurden seit dem 17. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung nach und nach Sklaverei, Folter, grausame Bestrafungen und andere Formen schwerer Gewalt geächtet.

Außerdem haben nach dem Zweiten Weltkrieg große Staaten keinen Krieg mehr gegeneinander geführt. Und seit den 1950er Jahren gibt es immer mehr Bewegungen für den Schutz von Minderheiten, von Kindern, von Frauen, Homosexuellen und sogar Tieren. Das von Steven Pinker erfasste Spektrum der Gewalt ist also sehr breit, und es zeichnet sich überall ein ähnlicher Trend ab: In den Grafiken geht die Linien von links oben nach rechts unten. Quelle: „Psychologie der Aggression“ von Hans-Peter Nolting

Von Hans Klumbies