In seinem wunderbaren Buch „Conditions of Love“ spricht der Philosoph John Armstrong von einem immerwährenden Rätsel des menschlichen Intimlebens. Er sagt, dass man oft einem Ideal der kompromisslosen Vereinigung von tiefer Liebe mit sexueller Erfüllung hinterherläuft, als könnte man, indem man die wahre Liebe in einer Person findet, für immer in ihm oder ihr die volle Befriedigung der eigenen sexuellen Wünsche finden. Der Hirnforscher und Neurowissenschaftler Giovanni Frazzetto ergänzt: „Das ist nicht unmöglich, und wenn es passiert, ist es ein tiefgreifendes Gefühl, ein starker Ausdruck der Hingabe.“ Wie jedoch bekannt ist, gibt der Sexualtrieb seine eigenen Motive dabei nicht auf. John Armstrong liefert eine kurze und schmerzhafte Lösung für dieses heikle Problem, vor dem die menschliche Natur steht. Er identifiziert zwei Wege, es zu umgehen.
Man kann auf außerehelichen Sex verzichten oder ihn geheimhalten
Der eine sei der Verzicht, der andere die Geheimhaltung. Bei Ersterem distanziert man sich im Namen der Liebe von außerehelichem Sex. Bei Letzterem wird die Liebe ihrer Transparenz beraubt. Bei seinem Versuch, das Problem zu lösen, beruft John Armstrong sich auf eine Geschichte des Kritikers und Sozialdenkers John Ruskin (1819 – 1900) über einen Herzog und einen Gemüsehändler. In John Ruskins viktorianischer Zeit verknüpften die Leute mit dem Kaufmannsdasein ungerechtfertigterweise einen irgendwie unwürdigen Lebenswandel.
Das war natürlich eine grobe Übertreibung. Die Welt war voll von Kaufleuten, die ehrlich und prinzipientreu waren und Anerkennung für ihre Arbeit verdienten. John Ruskin deutete darauf hin, dass, wenn ein Herzog für ein oder zwei Tage Lebensmittel verkaufen würde, haltlose Annahmen über die mangelnde Würde von Kaufmännern umgeworfen werden würden. Da die Würde eines Herzogs unangefochten war, würde sein neues Gewand die Botschaft verbreiten helfen, dass es durchaus möglich ist, ein Ladenbesitzer zu sein und zugleich als würdevoll angesehen zu werden.
Sex und Liebe werden manchmal als nicht vereinbar betrachtet
John Armstrong regt an, in diesen Begriffen über Liebe und Sex nachzudenken. Paare geraten ins Straucheln, weil das, was der einer oder der andere beim Sex machen will, manchmal nicht als mit Liebe vereinbar betrachtet wird. Was John Armstrong mit seiner Parallele sagen will, ist, dass Sex und Liebe, wie Herzog und Kaufmann, es beide gleichermaßen wert sind, respektiert zu werden, und, wenn man das Argument umkehrt, auch gleichermaßen fragwürdig, was ihr Verhalten angeht. Man braucht vielleicht etwas mehr Fantasie, Toleranz und Bereitschaft, um Sex und Liebe in seinen Beziehungen zu entwickeln.
Dabei sollte man versuchen, auch von der Norm abweichendes Verhalten zuzulassen, etwa Untreue mit Liebe unter einen Hut zu bringen. Giovanni Franzzetto kritisiert: „Heute entscheiden sich die meisten Fremdgeher für die Geheimhaltung in der Hoffnung, nicht erwischt zu werden.“ Wenn es um Affären und Untreue geht, bezieht man sich oft auf Dreiecksbeziehungen – obwohl natürlich auch andere geometrische Varianten möglich sind. Ich, meine Frau und der Nachbar. Mein Freund, seine Ex und ich. Immer geht es dabei um Menschen, die, indem sie ihrer Leidenschaft und einander nachjagen, Winkel des Kontakts und der Annäherung erweitern und verengen. Quelle: „Nähe“ von Giovanni Frazzetto
Von Hans Klumbies