Die beiden Besonderheiten der Digitaltechnologie – Bequemlichkeit und Überwachung – befinden sich im Konflikt mit der Privatsphäre. Gerd Gigerenzer erklärt: „Viele Menschen fühlen sich ausgeliefert und wissen keinen Ausweg. Anderen ist die unmittelbare Bequemlichkeit wichtiger als der langfristige Verlust der Privatsphäre.“ Trotzdem ist es bemerkenswert, dass die meisten nicht bereit sind, auch nur einen Euro zu bezahlen, um ihre Privatsphäre zurückzugewinnen. Vielleicht sind manche auch der Meinung, die Social-Media-Unternehmen würden sich nicht an eine solche Vereinbarung halten oder ihre Daten würden auch von anderen Organisationen gesammelt. Was immer die Gründe sein mögen, es könnte gut sein, dass das Privatsphären-Paradox nur ein kurzes Zwischenspiel der Geschichte bleiben wird. Gerd Gigerenzer ist ein weltweit renommierter Psychologe. Das Gottlieb Duttweiler Institut hat Gigerenzer als einen der hundert einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.
„Neusprech“ dient der Gedankenkontrolle
Vielleicht wird man eines Tages in der Überwachung nur ein natürliches Nebenprodukt der Bequemlichkeit sehen – nichts, worüber man sich Gedanken machen muss. In George Orwells „1984“ heißt die höchste Kunst der Gedankenkontrolle „Neusprech“. Gerd Gigerenzer erläutert: „Neusprech ist eine neue Sprache, die bestimmt, was man denken und was man nicht denken kann. Es hat die Aufgabe, die Weltsicht einer Ideologie auszudrücken und anders zu denken undenkbar zu machen.“
Das bewerkstelligt Neusprech, indem es die Bedeutung von Begriffen verändert oder sogar umkehrt, sodass sie für ihr Gegenteil stehen. Gerd Gigerenzer nennt Beispiele: „In Neusprech ist Krieg Frieden, Freiheit Sklaverei und Unwissenheit Stärke.“ Es könnte gut sein, dass das Privatsphären-Paradox auf ähnliche Weise gelöst wird. Alles Private ist Diebstahl, Überwachung ist Teilen und Heilen. Wenn Nutzer mit ihren Daten statt mit ihrem Geld bezahlen, kann die Weigerung, persönliche Informationen preis zu geben, durchaus als Diebstahl angesehen werden.
„Hot Or Not“ diente als Vorlage für die erste Version von Facebook
Gerd Gigerenzer stellt fest: „Dieses Geschäftsmodell durchlöchert die Privatsphäre der Nutzer, um mit ihren Daten Geld zu verdienen. Facebook ist ein besonders schönes Beispiel. Es begann mit einer Verletzung der Privatsphäre.“ „Hot Or Not“ war eine im Jahr 2000 ins Leben gerufene Webseite, auf der Nutzer die Attraktivität von Frauen und Männern anhand einer Skala von 1 bis 10 bewerten konnten. „Hot Or Not“ diente als Vorlage für die erste Version von Facebook, die Mark Zuckerberg 2003 als Student in Harvard entwickelte.
Es nannte sich FaceMash und zeigte Fotos von Studentinnen. Mark Zuckerberg hatte die Webseiten von Harvards Studentenwohnheimen gehackt, um sich Bilder von den „face books“ zu beschaffen, den ursprünglich auf Papier gedruckten Verzeichnissen mit Fotos der Bewohnerinnen von Harvards Studentenwohnheimen. Gerd Gigerenzer kritisiert: „Ohne die Frauen oder Heime um Erlaubnis zu fragen, hatte er die Fotos paarweise gepostet und die Nutzer gefragt, welche „heißer“ sei.“ Quelle: „Klick“ von Gerd Gigerenzer
Von Hans Klumbies