Innere Einstellungen lassen sich nicht messen

Das Gehirn bildet nicht nur übergeordnete Handlungsmuster zur Steuerung einer Vielzahl von Einzelbewegungen heraus, sondern macht dies auch, um das Verhalten eines Menschen möglichst energiesparend zu lenken. Gerald Hüther erklärt: „Die dafür im Gehirn herausgeformten übergeordneten Muster bezeichnen wir im Deutschen als innere Einstellungen und Haltungen. Herausgebildet werden diese Haltungen anhand der von einer Person in ihrem bisherigen Leben gemachten Erfahrungen.“ Diese im Frontalhirn als komplexe Netzwerke verankerten Haltungen und Einstellungen sind entscheidend dafür, wie sich die betreffende Person in einer bestimmten Situation verhält, was sie sagt und tut, worum sie sich kümmert und was sie links liegen lässt, was ihr also wichtig ist und was ihr gleichgültig bleibt. Das funktioniert alles fast automatisch und verbraucht weniger Energie, als jedes Mal darüber nachzudenken, welche Verhaltensweisen in bestimmten Situationen angemessen und zielführend sind. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland.

Das Selbstbild wird erst im Lauf des Lebens erworben

Als Beispiele für Haltungen nennt Gerald Hüther Entdeckerfreude, Offenheit und Gestaltungslust. Aber auch Neid, Geiz oder Missgunst zählen dazu. Messen lassen sich diese inneren Einstellungen nicht. Man kann sie nur aus den von ihnen gelenkten Verhaltensweisen ableiten, also aus dem, was eine bestimmte Person sagt und tut. Interessanterweise wird die Herausbildung dieser inneren Einstellungen und Haltungen ebenfalls durch ein im Gehirn verankertes, übergeordnetes Muster gelenkt. Aber das wird erst im Lauf des Lebens erworben.

Gerald Hüther erläutert: „Wir haben dafür in unserer Sprache keinen eindeutigen Begriff und bezeichnen dieses Metakonzept meist als Selbstbild. Im weitesten Sinne handelt es sich dabei um eine Vorstellung davon, was den betreffenden Menschen als Person ausmacht.“ Sie schließt aber gleichzeitig auch ein, was für ein Mensch er sein will, woran er sich in seinem Leben und bei seinen Entscheidungen orientiert. Die wissenschaftliche Bezeichnung für diesen Zustand, den nicht nur das menschliche Gehirn, sondern alle lebenden Systeme anstreben, heißt Kohärenz.

Inkohärenz geht mit einem erhöhten Verbrauch von Energie einher

Die Kohärenz ist ein Zustand, in dem möglichst alles gut und reibungslos zusammenpasst. Dann ist auch der zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung des betreffenden Systems erforderliche Energieaufwand am geringsten. Wenn es einem Menschen nicht gelingt, ein inneres Bild davon zu entwickeln, wer er sein will, fehlt ihm diese Ordnung stiftende Orientierung, und in seinem Gehirn passt dann vieles, was er denkt und was er tut, nicht mehr so gut zusammen.

Es kommt dann zu einer sich ausbreitenden Inkohärenz, und die geht immer mit einem erhöhten Verbrauch von Energie einher. Diese in der inneren Organisation des Gehirns angelegte Fähigkeit zur Reduktion von Komplexität durch die Herausbildung handlungsleitender und Orientierung bietender Metakonzepte ist also keine geistige Luxusleistung, die sich Menschen, wenn sie Lust und Zeit dafür haben, zu eigen machen können. Quelle: „Würde“ von Gerald Hüther

Von Hans Klumbies