Der Mensch ist mehr als sein Schein

Søren Kierkegaard wirft sich im Namen der Leidenschaft in die Arme der Religion. Friedrich Nietzsche wendet sich im Namen des Willens zur Macht gerade von ihr ab. Beide sehen sich aber gezwungen die Vernunft zu relativieren und sie etwas Größerem, Stärkerem und Mächtigerem unterzuordnen. Auch das zeichnet sich für Ger Groot seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts bereits ab: „Im Spieltrieb sucht Friedrich Schiller nicht länger nach einer Annäherung an die Wirklichkeit, sondern sieht darin eine Hinwendung zum Schein.“ Der Kunst des noch nicht Wirklichen wird dabei eine höhere Wahrheit zugeschrieben als dem Reellen. Die Rationalität kann nicht länger als Prüfung gelten. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Außerdem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

Arthur Schopenhauer erklärt den Willen zum Prinzip der Wirklichkeit

Denn die Rationalität ist zu sehr mit der Wirklichkeit, wie sie ist, verbunden, statt mit einer Verheißung dessen, was sie sein kann. Nach und nach beginnt man im 19. Jahrhundert zu ahnen, dass auch der Mensch nicht ist, was er zu sein scheint. Nicht nur seine Universalität muss hinter den Ansprüchen seines einzigartigen, singulären „Ich“ immer weiter zurücktreten. Auch der rationale Zuschnitt des „Ichs“ selbst gerät allmählich unter Verdacht. Dass der Mensch mehr ist als die „Denkmaschine“, die René Descartes noch in ihm sah, hebt Johann Gottfried Herder bereits im 18. Jahrhundert hervor.

Herder schreibt: „Bin nicht zu denken hier! – zu sein! zu hoffen! Leben und mich zu freun!“ Und auch um zu wollen, ergänzte Isaiah Berlin. Mehr noch als die Emotion ist der Wille der Dreh- und Angelpunkt des romantischen Bildes des menschlichen Gemüts. Durch den Willen wird es an- und vorangetrieben. Arthur Schopenhauer baut diese Einsicht zu einer wahren Metaphysik aus und erklärt den Willen zum Prinzip der Wirklichkeit in all ihren Aspekten. So weit würden längst nicht alle Denker im 19. Jahrhundert gehen.

Es entsteht die Idee des „Unbewussten“

Dennoch beginnt sich mit der Zeit die Vermutung festzusetzen, dass das „Ich“ viel weniger luzid und durchsichtig ist, als René Descartes und Immanuel Kant noch dachten. Hinter dem augenscheinlich geordneten Erscheinungsbild der Welt verbirgt sich bei Arthur Schopenhauer ein Weltwille. Dieser rast in einer blinden Dynamik dahin. Hinter dem Bewusstsein verbirgt sich möglicherweise eine ähnliche Art irrationaler Antriebsenergie. Diese versorgt das „Ich“ einerseits mit Tatkraft, andererseits überwuchert sie das „Ich“ mit ihrer unbeherrschbaren und gewaltsamen Natur.

Ger Groot stellt fest: „So entsteht die Idee des „Unbewussten“. Im Jahr 1869 veröffentlichte der Philosoph Eduard von Hartmann ein Buch unter dem Titel „Philosophie des Unbewussten“. Dieses schlägt ein wie eine Bombe.“ Eduard von Hartmann ist noch kein Psychologe. Sein „Unbewusstes“ hat noch Bezug zum Wesen der Wirklichkeit selbst, wie Arthur Schopenhauers „Wille“, den Hartmann mit Hegels „Geist“ kombiniert. Doch schon kurz darauf wird Sigmund Freud die Idee einer unbewussten Psyche entwickeln und dieser unermessliche Popularität verleihen. Quelle: „Und überall Philosophie“ von Ger Groot

Von Hans Klumbies