Die Wissenschaft erhebt sich über die Macht Gottes

Die Idee einer menschlichen Maschine und damit eines machbaren Menschen nimmt in der Kultur des 18. Jahrhunderts allmählich Gestalt an. Etwa fünfzig Jahre nach Julien Offray de La Mettrie schreibt Mary Shelley darüber eines der berühmtesten Bücher des Science-Fiction-Literatur. Ihr Roman „Frankenstein“ aus dem Jahr 1818 erzählt von der Erschaffung eines Menschen mittels wissenschaftlicher Kunstgriffe, auch wenn dabei noch reichlich von vorhandenem menschlichem Material Gebrauch gemacht wird. Ger Groot ergänzt: „Die Ehrfurcht gebietende Möglichkeit, dass die Wissenschaft wirklich an den Punkt gelangen könnte, nicht nur das Rätsel des Lebens, sondern sogar das des menschlichen Lebens zu entwirren, und sich damit über die Macht Gottes zu erheben versucht, kommt im Untertitel den Shelley ihrem Buch gegeben hat, klar zum Ausdruck: >The Modern Prometheus<.“ Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam und ist Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

Neues Wissen hat fast immer auch seine Schattenseiten

In der Tat: Das Wort „modern“ taucht hier schon als Zuspitzung des menschlichen Hangs auf, nach dem Göttlichen zu greifen. Hatte schon der Prometheus der klassischen Mythen den Göttern das Feuer gestohlen, so stahl er nun dem Schöpfer auch noch das Geheimnis des Lebens und seiner Erschaffung. Doch die Schwelle des göttlichen Privilegs wird nicht gefahrlos überschritten. Der Roman „Frankenstein“ unterstreicht die Schattenseiten, die das neue Wissen, das sich der Mensch erobert, mit sich bringt.

Zum überschwänglichen Optimismus der Aufklärung gesellt sich das Bewusstsein, dass alle menschlichen Fähigkeiten, auch die strahlende Vernunft, dunkle Winkel in sich bergen – und das hat seinerseits Rückwirkung auf die Vorstellungen, die der Mensch über sich selbst hegt. Ebenso wie sein Wissen ist der Mensch selbst ohne Schattenseiten, und deren Reichweite kann er kaum noch überblicken. Im Laufe des 19. Jahrhunderts überbrückt er eine gewaltige Distanz: Er startet bei der Selbstverherrlichung der eigenen Vernunft und ihrer elektrisierenden Versprechungen.

Das Bewusstsein entwickelt sich nach eigenen Gesetzen

Schließlich gelangt der Mensch zur freudianischen Erkenntnis am Ende des 19. Jahrhunderts, dass sich das Bewusstsein in keiner Weise selbst beherrscht und sich permanent von dem irrationalen Unbehagen bedroht sieht, das auf seinem Boden ruht. Der Mensch entdeckt seine eigenen grenzenlosen Fähigkeiten – und erschrickt darüber ebenso sehr, wie er sich dafür begeistern kann. Er ist von diesem Moment an ein doppelt zwiespältiges Wesen. Nicht nur Geist und Materie, sondern auch das Göttliche und das Menschliche kämpfen in ihm um den Vorrang.

Es ist ganz und gar nicht universell akzeptiert, dass die gesamte von Menschen erfahrene Wirklichkeit auf Materie zurückzuführen und mit der Methode der positivistischen Wissenschaft beschreiben lässt. Wie auch immer das Bewusstsein mit der Materie zusammenhängen mag, dieses Bewusstsein und die Welt, in der es lebt, lässt sich nicht auf das stoffliche Substrat reduzieren, auf dem es beruht. Das Bewusstsein ist nicht bloß ein Anhängsel der Materie, sondern durchläuft eine eigene Entwicklung mit eigenen Gesetzen und Eigenschaften. Quelle: „Und überall Philosophie“ von Ger Groot

Von Hans Klumbies