Geplant war die Überwindung des Nationalismus

Die Lehren aus der Geschichte und die zeitgenössischen Erfahrungen führen zum selben Schluss: Nur eine gemeinsame transnationale Politik kann eingreifen, kann gestalten und ordnen, was ansonsten Zerstörung, Verbrechen und Misere produziert. Robert Menasse stellt fest: „Geplant war die Überwindung des Nationalismus, und man kann füglich darüber streiten, wie weit die Gründungsgeneration vorausgeblickt hatte und ob sie sich perspektivisch sogar auch ein Absterben der Nationalstaaten hatte vorstellen können.“ Denkt man darüber nach, hätte es eine innere Logik, und es gäbe logische Argumente für seine Notwendigkeit. Die Europäische Union (EU) hatte, durch ihre Utopie, die über mehr als ein halbes Jahrhundert in Realpolitik übersetzt wurde, einige Schritte in diese Richtung gemacht. Seit 1988 lebt der Romancier und kulturkritische Essayist Robert Menasse hauptsächlich in Wien.

Die Geschichte bietet Verwüstungen und Wunder

Aber darf man von der Geschichte Logik erwarten? Robert Menasse weiß: „Die Geschichte bietet Verwüstungen und Wunder und wieder Zerstörung und kurzfristige Konsequenzen und Vergessen.“ Logik? Ist womöglich nur ein Pausenfüller. Aber dies ist unbestreitbar: Die EU ist das vorläufige reale Ergebnis einer konkreten Utopie, eines Blicks in die Welt von morgen, in die Zukunft, auf der Basis von historischen Erfahrungen und von Gestaltungswillen. Hingegen die nationalistische Kritik daran – was will sie, was stellt sie sich unter Zukunft vor?

Eine Rückkehr in eine Geschichte, die es nie gegeben hat – ein glückliches, ethisch definiertes Volk lebt auf seinem Territorium in freier Selbstbestimmung in Frieden und allgemeinem Wohlstand und trotzt allen Stürmen der Geschichte. Robert Menasse betont: „Eine Rückkehr ins Nie-Gewesene ist keine Zukunft. Der Nationalismus hat keine Zukunft. Aber er kann die vorläufige zerstören.“ Dass die Welt von morgen nachhaltig sein wird und soll, war gestern noch äußerst populär – zumindest zwei Jahrzehnte lang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Zwischen den EWG-Ländern wurden keine Zölle mehr erhoben

Im Jahr 1957 war mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet worden. Robert Menasse erklärt: „Es hieß Wirtschaftsgemeinschaft, aber ihre Entscheidungen waren große Schritte in Hinblick auf Gemeinschaftspolitik: Für die EWG-Länder waren im Handel die nationalen Grenzen beseitigt, es wurden keine Zölle mehr erhoben. Außerdem einigten sich die teilnehmenden Staaten auf einen gemeinsame Kontrolle der Lebensmittelproduktion, damit die ausreichende Ernährung der Populationen diese Länder sichergestellt war.“

Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer, das überdeutliche Symbol der Spaltung der deutschen Nation, man kann auch sagen, der pragmatischen Anerkennung ihrer Zerstörung. Das bedeutete zugleich den definitiven Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in nachnationale politische Systeme: Westanbindung und EWG. Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) gehörte von nun an zum Ostblock. Robert Menasse erläutert: „Es wird immer wieder kritisch angemerkt, die EU sei doch nur ein Elitenprojekt. Aber in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war die kollektive Fantasie schon weiter als die der heutigen politischen Eliten.“ Quelle: „Die Welt von morgen“ von Robert Menasse

Von Hans Klumbies