Die heutige Sprachsensibilität lässt sich am Grad ihrer Normierung messen. Svenja Flaßpöhler stellt fest: „Gendergerechtes Sprechen ist in zahlreichen Institutionen inzwischen die Regel. Insbesondere an Universitäten wird um gendersensible Wortwahl eindringlich gebeten.“ Im September 2020 erließ der Berliner Senat einen Leitfaden für diversitysensibles Sprechen. Anstatt „Ausländer“ solle fortan „Einwohnende ohne deutsche Staatsbürgerschaft“ gesagt werden. Das Wort „Schwarzfahrer“ müsse ebenfalls vermiede und durch „Fahrende ohne gültigen Fahrschein“ ersetzt werden. Für das Verständnis der gegenwärtigen Debatten ist es notwendig, die sprachphilosophischen Wurzeln der neuen Feinfühligkeit genauer zu beleuchten. Fundamental für das Verständnis der Gegenwart ist, wissenschaftshistorisch gesehen, der sogenannte „linguistic turn“, zu Deutsch die „linguistische Wende“. Gemeint sind damit sprachwissenschaftliche und sprachphilosophische Ansätze, die bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückreichen und sprachlichen Zeichen Realitätseffekte zuschreiben. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.
Die Sprache ist ein ganz eigenes System
Diese Ansätze vertreten die These, dass Sprache nicht einfach auf Wirklichkeit zugreift, sondern Wirklichkeit schafft. Svenja Flaßpöhler ergänzt: „Wörter haben aus psychoanalytischer Perspektive immerhin sichtbares Heilungspotenzial. Umgekehrt können sie auch, so offenbart sich an konkreten psychosomatischen Leiden, wie ein „Schlag ins Gesicht“ wirken.“ Der eigentliche Wegbereiter der linguistischen Wende aber war ein Zeitgenosse Sigmund Freuds: der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857 – 1913).
Svenja Flaßpöhler weiß: „In seiner posthum veröffentlichten, wirkmächtigen Schrift „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft“ (1916) entwickelte er den Gedanken, dass sprachliche Zeichen die Welt nicht einfach repräsentieren, sondern Sprache vielmehr ein ganz eigenes System ist, das Bedeutungen aus sich selbst hervorbringt.“ Anders gesagt: Sprachliche Zeichen benennen nicht einfach Sachen, wie sie nun einmal vorkommen in der Welt. Ein konkretes Beispiel: Bei dem Wort „Tisch“ entsteht im Kopf sofort die Vorstellung eines entsprechenden Gegenstands.
Die Sprache ermöglicht überhaupt erst das Denken
Doch ist diese Kopplung von Zeichen und Vorstellung Ferdinand de Saussure zufolge willkürlich. Bevor diese beiden Größen – Lautbild und Vorstellung oder, wie Saussure sagt, Signifikant und Signifikat – in einem Zeichen aufeinandertreffen, sind sie gestaltlos und unbestimmt. So vergleicht Saussure die menschlichen Vorstellungen mit „einer Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist“. Svenja Flaßpöhler fügt hinzu: „So betrachtet, ermöglicht Sprache, indem sie die undefinierbare Masse strukturiert, überhaupt erst unser Denken.“
Die Struktur der Sprache selbst aber ergibt sich dabei eben gerade nicht aus der vorsprachlich existenten Welt, sondern die Bedeutung eines Zeichens resultiert aus der Abgrenzung zu anderen Zeichen innerhalb des Systems. In Ferdinand de Saussures eigenen Worten: „Alles Vorausgehende läuft darauf hinaus, dass es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit ohne positive Einzelglieder. […] Was an Zeichen an Vorstellung oder Lautmaterial enthält, ist weniger wichtig als das, was in Gestalt der anderen Zeichen um dieses herumgelagert ist.“ Quelle: „Sensibel“ von Svenja Flaßpöhler
Von Hans Klumbies