Für Karl Jaspers gibt es keine absolute Unabhängigkeit

Der deutsche Philosoph Karl Jaspers vertritt die These, dass die Unabhängigkeit des Menschen scheinbar lautlos verloren geht, in einer Welt, in der das Dasein durch das Typische, die Gewohnheiten des Alltags und die ungefragten sich wiederholenden Selbstverständlichkeiten überflutet wird. Dieser um sich greifenden Tendenz setzt er das Philosophieren entgegen, in der der denkende Mensch unter allen Bedingungen um seine innere Unabhängigkeit ringt. Denn das Bild des Philosophen wird seit der Antike von seiner Unabhängigkeit geprägt, weil er sich der Welt der Güter entsagt, von der animalischen Herrschaft der Triebe befreit und wie ein Asket befürfnislos lebt.

Auch die Unabhängigkeit hat ihre Grenzen

Da er die Schreckensbilder der Religionen in ihrer Unwahrheit durchschaut hat, kann der Philosoph auch ohne Angst leben. Außerdem schlüpft er in die Rolle des Weltbürgers, der unbeteiligt an Staat und Politik, in der Verborgenheit ruhig und ohne Bindungen lebt. Dieser Philosoph glaubt einen absolut unabhängigen Punkt der Unbetroffenheit und Unerschütterlichkeit erreicht zu haben, außerhalb aller Dinge.

Allerdings kann sich laut Karl Jaspers kein Mensch auf einem isolierten Punkt der Losgelöstheit halten. Die Unabhängigkeit verkehrt sich in ihr Gegenteil, wenn sie sich für absolut hält. Die vielen Gestalten täuschender Unabhängigkeit, in die der Mensch geraten kann, macht die Unabhängigkeit selbst verdächtig. Um die wahre Unabhängigkeit zu gewinnen, bedarf es eines Bewusstseins der Grenzen aller Unabhängigkeit.

Nur durch die Kommunikation mit anderen kommt der Mensch zu sich selbst

Absolute Unabhängigkeit ist für Karl Jaspers ein Ding der Unmöglichkeit. Der Mensch ist im Denken und in seinem Dasein auf andere angewiesen, mit denen erst in gegenseitiger Hilfe ein Leben möglich ist. Erst mit der Kommunikation mit anderen kommt der Mensch zu sich selbst. Es gibt keine isolierte Freiheit für den Einzelnen. Wo Freiheit ist, ringt sie mit der Unfreiheit, mit deren völligen Überwindung infolge des Wegfalls aller Widerstände die Freiheit selbst aufgehoben wäre.

Daher ist der Mensch laut Karl Jaspers nur dann unabhängig, wenn er mit der Welt verflochten ist. Wer die Welt verlässt, kann dadurch nicht wirklich unabhängig werden. In der Welt unabhängig zu sein bedeutet zweierlei: Dabei sein und zugleich nicht dabei sein, in ihr und zugleich außer ihr zu sein. Die Unabhängigkeit des Menschen ist also unlösbar von einer Weise der Abhängigkeit in der Welt.

Philosophieren ist die Schule der inneren Unabhängigkeit

Karl Jaspers glaubt nicht an die Ruhe der Stoiker und ihre Unerschütterlichkeit. Er ist vielmehr der Meinung, dass der Mensch nur im Aufschwung aus der Gebundenheit an die Gemütsbewegungen und nicht durch ihre Tilgung zu sich selbst kommt. Der Mensch muss es einfach wagen, Mensch zu sein, und dann tun, was er kann, um darin zu seiner erfüllten Unabhängigkeit vorzudringen.

Nur dann wird der Mensch die Fähigkeit erringen, zu leiden ohne zu jammern, zu verzweifeln ohne zu versinken, geschüttelt zu werden ohne umzufallen. Denn es fängt ihn auf, was als innere Unabhängigkeit ihm erwächst. Philosophieren ist für Karl Jaspers die Schule dieser Unabhängigkeit, nicht der Besitz der Unabhängigkeit selbst.

Von Hans Klumbies