Frédéric Lenoir erforscht das Rätsel der Existenz

Die Menschen haben über ganz verschiedene Epochen und an unterschiedlichen Orten nach Weisheit gesucht. Wie kam es zu dieser allumfassenden Suche? Frédéric Lenoir antwortet: „Wahrscheinlich hat der Homo sapiens, seit es ihn gibt, das Rätsel seiner Existenz hinterfragt.“ Eines der ältesten Texte der Menschheit, das vor beinahe viertausend Jahren in Mesopotamien entstandene „Gilgamesch-Epos“, ist schon von Fragen zum Sinn des Lebens, zu Tod und Unsterblichkeit sowie zu der Möglichkeit, auf der Erde glücklich zu sein, durchzogen. Die großen Fragen der Philosophie werden darin angesprochen, wenn auch nur zum Teil beantwortet. Zu jener Zeit waren menschliche Gesellschaften vollständig durch institutionalisierte Religionen geregelt, die Glauben und Rituale übermittelten sowei den verschiedene, damals im Entstehen begriffenen antiken Hochkulturen als Zusammenhalt dienten. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.

Vor rund 2500 Jahren begann die Suche nach der Weisheit

Das „Gilgamesch-Epos“ war der erste Text, in dem Bedürfnisse beschrieben wurden, die eher spiritueller und individueller als religiöser und kollektiver Natur waren. Dennoch sollte es noch über ein Jahrtausend dauern, bis sich die Fragen nach dem Schicksal jedes Einzelnen verbreiteten. Ungefähr in der Mitte des ersten Jahrtausends vor Chr. begann in allen Kulturkreisen die Suche nach einem individuellen Glück, nach einem guten Leben, einem Heil oder einer Erlösung.

Sei es in China, Ägypten, Persien, Mesopotamien, Judäa, in Indien oder in Griechenland, überall fragte man nach dem Sinn des Lebens und beschäftigte sich ebenso mit dem Schicksal des Individuums wie mit dem des Gemeinwesens, des König- oder Kaiserreiches. Frédéric Lenoir ergänzt: „Damit begann die Suche nach Weisheit, und zugleich entwickelten sich die großen spirituellen Strömungen der Menschheit, wie der Konfuzianismus und der Taoismus in China, der Hinduismus, der Jainismus und der Buddhismus in Indien, der Zoroastrismus in Persien, das jüdische Prophetentum in Israel, die Philosophie in Griechenland.“

In entwickelten Gesellschaften entstehen die gleichen spirituellen Fragen

Alle diese Strömungen entstanden beinahe gleichzeitig in unterschiedlichen Kulturkreisen und Regionen der Welt. Haben sie einander inspiriert? Frédéric Lenoir antwortet: „Es gab manchmal Wechselwirkungen. Von Pythagoras, einem der Väter der griechischen Philosophie, wird gelegentlich behauptet, er sei sogar in Indien gewesen.“ Das jüdische Prophetentum hat sich im Austausch mit der ägyptischen, babylonischen und persischen Zivilisation entwickelt.

Doch direkte Kontakte sind selten. Es ist wahrscheinlicher, dass manche Ideen und Anliegen zur gleichen Zeit in unterschiedlichen Kulturkreisen auftreten, ganz einfach aufgrund des universellen Charakters des menschlichen Geistes. Überall stellen sich Menschen, egal welcher Hautfarbe, dieselben Fragen. Sie suchen nach Glück, empfinden Eifersucht oder Mitleid. Die gleichen Schwierigkeiten des Zusammenlebens oder moralischen Dilemmata treiben sie um, und alle müssen sich mit der Trauer beim Tod ihrer Angehörigen auseinandersetzen. Sobald eine Gesellschaft ein bestimmtes Niveau an ökonomischer und kultureller Entwicklung erreicht hat, sobald grundlegende Bedürfnisse des Überlebens und der Sicherheit gewährleistet sind, entstehen die gleichen spirituellen Fragen. Quelle: „Weisheit“ von Frédéric Lenoir

Von Hans Klumbies