Ein glückliches Leben muss kein gutes sein

Sokrates hat eine fundamentale Unterscheidung zwischen einem glücklichen und einem guten, das heißt einem rechtschaffenen, Leben eingeführt. Frédéric Lenoir erläutert: „Man kann ein egoistisches Glück suchen, ohne sich allzu sehr um die anderen zu kümmern, oder sich sogar explizit ungerecht verhalten.“ Fast jeder kennt einzelne Personen, die ihr Leben nach dem Motto „Nach mir die Sintflut!“ führen. Sie denken nur an sich selbst oder ihren Clan und interessieren sich nicht im Geringsten für das Gemeinwohl. Im Übrigen glaubt Frédéric Lenoir nicht, dass sie im Innersten glücklich sein können. Denn tiefes Glück ist seiner Meinung nach gebunden an Liebe, Altruismus und ein gerechtes Verhältnis zu anderen. Wie auch immer, sie streben nach dem Glück, aber ohne nach den Regeln des Anstands zu leben. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.

Die Liebe ist die Vollendung der Weisheit

Ihr Leben kann mehr oder weniger glücklich verlaufen, ohne gut zu sein. Weisheit hingegen führt zu einem Leben, das zugleich glücklich und anständig ist. Glücklich, weil sie die Menschen auffordert, sich gemäß ihrer einzigartigen Natur zu verwirklichen. Und gut, weil sie die Menschen lehrt, auch an die anderen zu denken, sie zu respektieren und anständig zu leben. Heißt anständig zu leben, die anderen zu lieben? Auf diese Frage antwortet Frédéric Lenoir mit Ja und Nein.

Die Liebe ist die Vollendung der Weisheit, denn wenn man liebt, wenn die Liebe einen Menschen leitet, will und tut er das Richtige. Kein Gesetz muss ihn dazu zwingen. Jedoch kann man auch die anderen respektieren und aus einer moralischen Verantwortung heraus anständig leben. Man kann also aus Liebe ebenso wie aus Tugend das Gute tun. Diese Liebe kann sehr unterschiedlich sein. Sie kann eine Liebe voller Begehren sein, eine freundschaftliche Liebe oder eine universelle, selbstlose Liebe.

Die universelle Liebe ist die spirituellste

Die begehrende Liebe ist widersprüchlich. Denn sie kann einen Menschen im Extremfall dazu bringen, dass er sein Leben für einen anderen hingibt oder ihn aus Leidenschaft töten. Die freundschaftliche Liebe ist viel tiefer und spiritueller. Dazu zählt Frédéric Lenoir Freundschaften, aber auch eine Paarbeziehung oder die Elternliebe. Man ist wohlwollend gegenüber Menschen, die man gewählt oder begehrt hat, etwa dem Partner, den Kindern und seinen Freunden gegenüber.

Man will das Beste für sie, weil man sie liebt. Schließlich ist die universelle Liebe die am meisten spirituelle und am wenigsten emotionale Liebe. Man liebt dabei nicht nur einem nahestehende Menschen, die man ausgewählt hat, sondern jedes menschliche Wesen und sogar jedes Lebewesen. Das ist die Liebe, die Buddha oder Christus predigen. Dabei handelt es sich um eine Liebe, die keinerlei Gegenleistung erwartet. Diese Liebe ist schöpferisch. Indem man liebt, gibt man den von einem Geliebten einen Wert. Quelle: „Weisheit“ von Frédéric Lenoir

Von Hans Klumbies